Grundvertrauen
Felix van Groeningen verfügt über eine Gabe, die eigentlich jeder Filmemacher besitzen sollte. Aber nur wenige besitzen sie im gleichen Maße wie er. Er hat ein besonderes Talent, Stoffe zu finden, die perfekt zu ihm passen. Er scheint das Finden so gut zu beherrschen, dass er manchmal gar nicht suchen muss. Dann kommt der Stoff zu ihm, wie er in dem aufschlussreichen Interview berichtet, das Thomas Abeltshauser für das aktuelle Heft mit ihm geführt hat.
Wie praktisch alle Langfilme des belgischen Regisseurs beruht »Acht Berge«, der am Donnerstag bei uns anlief, auf einer literarischen Vorlage, die oft autobiographische Wurzeln hat. »Die Beschissenheit der Dinge« ist die Verfilmung des Entwicklungsromans von Dimitri Verhulst, dessen Erzähler heranwächst in einer Familie fröhlicher Versager, die aus dem alleinstehenden Vater, dessen ebenso trinkfesten Brüdern und einer (Groß-) Mutter besteht, die eine Heilige ist. Ein Vorspanntitel kündigt die Erfahrungssättigung bereits an: "Ähnlichkeit mit realen Personen und Ereignissen haben nur mit Menschenkenntnis zu tun." Der herzzerreißende »The Broken Circle« basiert auf einem Theaterstück des Hauptdarstellers Johan Heldenbergh. Sein erster englischsprachiger Film »Beautiful Boy« kombiniert die Memoirs, die David Sheff und sein Sohn Nic über dessen Drogenabhängigkeit geschrieben haben.
Ich glaube, in dieser Stoffsuche eine gewisse Systematik zu erkennen. Im Zentrum stehen Beziehungen von großer Innigkeit, die irgendwann zerbrechen. Diese Prozesse vollziehen sich im Verlauf mehrerer Jahre. Er dekliniert die in unterschiedlichen Konstellationen durch, der heillos chaotischen Familie; dem Elternpaar, das sein Kind verliert; dem Vater, der um das Leben seines Sohnes kämpft; in »Acht Berge« ist es nun eine Männerfreundschaft. Jedoch will sich van Groeningen nicht wiederholen. Im Roman von Paolo Cognetti spielt das Verhältnis zwischen Erzähler und dessen Vater eine noch weitaus tragendere Rolle. Das hatte er schon, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Und da die Erzählstruktur von »The Broken Circle« zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselte, haben er und Charlotte Vandermeersch bei der Adaption von „Acht Berge“ ein ähnliches Changieren in der Vorlage revidiert und sich nachdrücklich an die Chronologie der erzählten Leben gehalten. Der Regisseur jongliert auch gern mit dem Tonfall. »Die Beschissenheit der Dinge« ist in der ersten Hälfte ziemlich ulkig. Der Humor verdankt sich der Darsteller, die eine gewinnende Munterkeit in die verkrachten Existenzen legen- ebensowie dem ironischen Kommentar aus dem Off ("Wir hatten uns auf eine Zeit gewaltigen Glücks einzustellen."). Die Filme verwandeln sich an, sie machen sich etwas Fremdes zu eigen. Ihrem Regisseur gebricht es an vordergründiger Selbstbezogenheit: Er drückt sich in der dritten Person Singular aus.
Das Drehbuch von »Acht Berge« verfährt pragmatisch, um dem Geist des Romans treu bleiben zu können. Es verschiebt Elemente, komprimiert andere, spart wieder andere aus. Im Buch ist der Erzähler zum Beispiel ein Dokumentarfilmer (wie Cognetti selbst), im Film ist er es zum Glück nicht. Eine latente Ahnung im Roman (dass eigentlich Bruno der ideale Sohn für seinen Vater war) offenbart sich im Film als eine späte Entdeckung. Ein Rätsel, das Pietros Vater dem Sohn beim Wandern aufgibt – wo die Zukunft liegt: flussabwärts oder an der Quelle? - fehlt. Im Roman hat es mich beschäftigt, im Film vermisse ich es nicht. Das sind allesamt lässliche Eingriffe. Vandermeersch und Van Groeningen müssen sich den Roman nicht zurechtbiegen und zugleich auch nichts hinzuerfinden, damit im Film etwas unabweisbar Eigenes entsteht.
Überhaupt verdichtet sich van Groeningens Lesart der unterschiedlichen literarischen Vorlagen zu einem Koordinatensystem, das zuhauf jene thematischen, motivischen Querverbindungen enthält, die gern wir Kritiker gern zum Ausweis einer persönlichen Handschrift erklären. Die Vorlagen antworten gleichsam aufeinander. Die Erzähler von »Die Beschissenheit der Dinge« und »Acht Berge« finden sich beispielsweise an einem Punkt wieder, an dem sie das Alter ihrer Väter erreichen, als sie selbst geboren wurden. Der Wunsch, nicht so zu werden, ist in beiden Filmen groß. In den physischen Herausforderungen, welche die Väter - und auf deren Geheiß auch die Söhne - annehmen beim Prozess des Mannwerdens (das Surfen in »Beautful Boy«, das Bergsteigen in »Acht Berge«) manifestiert sich zugleich jedoch ein starkes Moment der Übertragung, der Transmission. Der Vater nahm Pietro mit auf "Wege, wo es keine gibt". Für den Jungen war das Aostatal ein Abenteuerspielplatz, für seine Eltern hingegen ein wiedergefundenes Paradies, das sie zuvor nicht kannten. Die "schmerzliche Sehnsucht" nach den Bergen, an der er fortan seinen Vater leiden sieht, wird für den erwachsenen Pietro zu einer frei gewählten Passion. Er löst sich ab und kommt dem Vater wieder nahe. Ein schönes Prinzip, wenn man einen Roman verfilmt.
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