Unauslöschlich
Das Feuer breitete sich schnell und mit großer Macht aus. Es war kurz nach Mitternacht in der Garage ausgebrochen und breitete sich unerbittlich in den darüber liegenden Stockwerken aus. Die Feuerwehr von Vincennes brauchte sechs Stunden, bis sie den Brand unter Kontrolle hatte. Er verwüstete nicht nur das Haus Nr. 30 in der Rue de la Liberté, sondern griff auch auf ein Nebengebäude über.
Zwei Menschen fielen in der Nacht vom 10. auf den 11. August 2020 den Flammen zum Opfer. Ein Bewohner verunglückte bei dem Versuch, sich durch einen Sprung aus dem vierten Stock zu retten. Am Morgen entdeckten die Feuerleute über der Garage den verkohlten Leichnam einer Seniorin. Weitere Mieter erlitten schwere Verletzungen. Die Brandursache war rasch geklärt. In der Garage lagerten mehrere Hundert Rollen Nitrofilm, die sich selbst entzündet hatten.
In dem Pariser Vorort herrschten in diesem August Hundstage. Einige Tage zuvor war das Thermometer auf über 40 Grad Celsius gestiegen. Die Feuerwehr stellte fest, dass die Wände der Garage nicht sachgemäß isoliert worden waren. Die Sprinkleranlage hatte versagt, einen Rauchmelder gab es nicht. Die Polizei verständigte den Mieter der Garage eine Stunde nach Ausbruch des Feuers. Seine Name ist mir und vielen Cinéphilen weltweit wohlvertraut: Serge Bromberg. Zuletzt beschäftigte ich mich an dieser Stelle am 11. 1. 2021 im Eintrag "Wiedergefundene Magie" mit seiner Dokumentation über Georges Méliès.
In der vergangenen Woche musste er sich vor dem Strafgericht von Creteil verantworten. Die Anklage lastet ihm fahrlässige Tötung sowie Gefährdung von Menschenleben an. Sie fordert eine Haftstrafe von vier Jahren (davon drei zur Bewährung ausgesetzt) sowie eine Geldbuße, deren Höhe nach Angaben unterschiedlicher Prozessbeobachter zwischen 45000 und 135000 Euro liegen soll. Der Angeklagte war vollumfänglich geständig. Aber doch nicht ganz. Er sprach von einer furchtbaren Tragödie und räumte Irrtümer ein. Während der zwei für die Verhandlung angesetzten Tage kehrte er dem Publikum den Rücken zu. Die Angehörigen der Opfer beschrieben sein Auftreten als kalt. Die Urteilsverkündung ist für den 24. Januar angesetzt.
Der leicht entflammbare Nitrofilm war bis Ende der 1940er Jahre das gängige Trägermaterial für Kinofilme. Historiker schwärmen von seiner unvergleichlichen Kontraststärke. 1952 wurde seine Verwendung in Frankreich untersagt, ab 1959 wurden öffentliche Vorführungen verboten. Das französische Filmzentrum CNC lagert Nitrokopien in seinem Archiv, einer ehemaligen napoleonischen Festung in Bois d' Arcy, bei einer Temperatur von 12 Grad. Sollte sie auf 20 Grad ansteigen, wird zuverlässig ein Alarm ausgelöst. In den 1990er Jahren lancierte das CNC seinen "plan nitrate", um das gefährliche Material auf Sicherheitsfilm umzukopieren. Das war noch vor dem Digitalisierungswahn. Der Plan war auf 15 Jahre angelegt und wurde mit 80 Millionen Euro subventioniert. Wie Béatrice de Pastre, die Archivleiterin des CNC, mir während eines Interviews berichtete, genügte das, um die dringendsten Fälle zu bearbeiten. Natürlich gab es auch in staatlichen Archiven verheerende Brände, darunter zwei notorische in der Cinémathèque francaise. Aber sie liegen lange zurück. Anders als zu Henri Langlois' Zeiten wird längst nach strengen wissenschaftlichen Maßstäben archiviert.
Der Filmsammler Serge Bromberg stößt bei seinen Schatzsuchen häufig auf Nitrokopien. Als ich ihn vor einigen Jahren einmal interviewte, beschrieb er seine Lebensaufgabe so: "Ich suche in Keller und auf Speichern Filme, die es nicht mehr gibt." Er schein mir eitel genug, um sich nicht nur als einen unermüdlichen Idealisten zu sehen, sondern als eine nachgerade romantische Figur: Seit Jahrzehnten pflegt er das Image des Jägers und Retters der verlorenen Filme. Dafür wird er auf einschlägigen Festivals gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet. Sein charismatisches Sendungsbewusstsein begeistert auch ein breites Publikum, nicht nur die Fachwelt. Mit seiner Firma Lobster ist er zu einem wichtigen Player im Geschäft mit Restaurierungen und deren Vertrieb geworden. Für gewöhnlich arbeitet er eng mit dem CNC zusammen. Auch in diesem Fall, sagte er vor Gericht aus, habe er sich darauf verlassen, dass er seine Nitro-Kopien bald in Bois d'Arcy lagern könne. Die Garage habe nur als Zwischenlösung gedient. Eine entsprechende Korrespondenz konnte er offenbar nicht vorweisen. Auf die Frage des Vorsitzenden Richters, warum er dafür ein achtstöckiges Wohnhaus in einem dicht besiedelten Viertel im Speckgürtel von Paris nutzte, antwortete er, das sei ein dummer Fehler gewesen. Tatsächlich dient ihm ebenfalls ein abgelegenes Bauernhaus in der Normandie als (Zwischen-) Lager.
Die in der Garage in Vincennes untergebrachten Nitrokopien hätte er bei den örtlichen Behörden anmelden müssen. Angeblich habe er eine Erlaubnis eingeholt, wofür es jedoch keinen schriftlichen Nachweis gibt. Den genauen Bestand konnte er nicht nennen, es soll sich um entweder 1364 oder 1935 Kopien handeln. So genau hat dieser Retter es nicht genommen, weder mit der Buchhaltung, der Sicherheit noch der Sorgfaltspflicht. Anzahl und Gewicht der feuergefährlichen Kopien überschreiten allemal weit die Grenze, ab der die Lagerung feuergefährlicher Materialien anmelde- und genehmigungspflichtig sind.
Bromberg kannte die Risiken genau, die er einging. Vor Gericht führte er als Entschuldigung an, seine Sammlertätigkeit sei eben nicht nur ein Steckenpferd, sondern eine Mission von öffentlichem Interesse. Dennoch überwog wohl die Leidenschaft in seiner Argumentation. Ein Prozessbeobachter schrieb, ihm sei der Lapsus unterlaufen, sie als unauslöschlich zu bezeichnen. Das gedankenlose Adjektiv entdeckte ich allerdings nur in einem von mehreren Artikel. In allen war jedoch das Fazit seiner Aussage zu lesen: "Ich bin ein Opfer meiner Passionen."
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