Schwarzweiße Farbigkeit
Während bei uns »Nightmare Alley« gerade in der offiziellen Fassung gestartet ist, läuft er in Los Angeles inzwischen schon in einer zweiten Version: in Schwarzweiß. Sie trägt den Zusatztitel »Vision in Darkness and Light«, der eine gewisse Großspurigkeit besitzt, die gut zur Hauptfigur Stanton Carlisle passt.
Diese zweite Version ist kein Nebenprodukt, sondern die Kehrseite einer doppelten ästhetischen Buchführung. Guillermo del Toro und Kameramann Dan Laustsen haben den Film so konzipiert, dass er in Farbe wie in Monochrom wirkt. Ich kann mir vorstellen, dass er in Schwarzweiß sehr gut funktioniert, das gilt vermutlich besonders für die Szenen in Cate Blanchetts Art-Deco-Praxis; die Nachtsequenz in Richard Jenkins' verschneitem Park wiederum ist ohnehin schon desaturiert und Rooney Maras rotes Jackett liefert fast den einzigen Farbakzent.
Ein solches Doppelspiel haben letzthin einige Regisseure gewagt. So kamen beispielsweise »Mad Max: Fury Road« und »Wolverine« in Schwarzweiß heraus, »Parasite« lief auch bei uns in dieser Zweitfassung. Bei »Nightmare Alley« hat dies eine besondere Bewandtnis: als eine Rückverwandlung. Mit der alternativen Vision ist del Toros Hommage an den Film Noir gewissermaßen komplett; auch als doppeltes vanity piece, das sich der Regisseur gestatten durfte. Denn der Film Noir ist ein Terrain, das Filmemacher viel stärker fasziniert als das breite Publikum. Der Misserfolg des Films – er hat in den USA bislang kaum ein Sechstel seiner Produktionskosten eingespielt – führt dies vor Augen. Gestern ist Martin Scorsese seinem Kollegen mit einem Artikel für die "Los Angeles Times" beigesprungen. Seine Fürsprache ist ein ziemlich einzigartiger Vorgang. Es schmerzt Scorsese, dass das Publikum in Scharen fortblieb und del Toros Leistung so nicht angemessen gewürdigt wird. Er argumentiert aus der Perspektive eines solidarischen, die Gestaltungskraft bewundernden Filmemachers, der insgeheim feststellen muss, wie schwer es Autorenfilme im aktuellen Klima haben. »Nightmare Alley« hatte gewiss nie eine Chance, mehr als ein Achtungserfolg zu werden. Aber nicht einmal die blieb ihm.
Das Scheitern von Ehrgeiz und hochfliegenden Träumen ist einerseits sein Thema und steckt andererseits schon in seiner DNS. Er erzählt von lauter unwillkommenen Dingen, ist nachgerade besessen von der unamerikanischen Idee des Niedergangs. Allerdings ist del Toros Neuverfilmung das jüngste Kapitel einer bemerkenswert robusten Stoffgeschichte. Die schwefelhafte Romanvorlage von William Lindsay Gresham war 1946 ein beachtlicher Skandalerfolg - und mithin ein rotes Tuch für die freiwillige Selbstkontrolle der Filmindustrie. Tyrone Power, der nach dem Weltkrieg sein Image verändern wollte, sah jedoch in ihr ein ideales Vehikel und besaß bei 20th Century Fox genug Einfluss, um das Projekt durchzusetzen. »Nightmare Alley« war 1947 schon genau das, was es heute ist: ein B-Picture mit einem A-Budget. Eigentlich ein Betriebsunfall des Studiosystems.
Die Erstverfilmung »Der Scharlatan« blieb wegen eines Rechtsstreits lange Zeit unsichtbar, errang derweil aber einen legendären Ruf. Es gibt sie wohl komplett auf Youtube, aber wahrscheinlich nicht in so exzellenter Qualität wie in der DVD-Ausgabe der Reihe "Fox Fim Noir" (Regionalcode 1). Das tiefe Schwarz der kontrastreichen Fotografie von Lee Garmes legt die Messlatte für del Toro und Laustsen enorm hoch. Aber eine Hommage folgt eben nicht dem Gesetz der Überbietung. Das Drehbuch von del Toro und Kim Morgan nimmt sich selbstredend Freiheiten, die dem alten Film nicht zu Gebot standen. Es sind jedoch überraschend wenige - ich habe ein "motherfucker" gezählt; es gibt einen Selbstmord, dessen Darstellung unter dem Production Code untersagt war sowie die Ahnung einer Abtreibung; Toni Collette greift zielstrebig in die Wanne, in der Bradley Cooper badet -, aber der verschwörerische Kuss der Zwei verschwindet in einer züchtigen Abblende. Der inszenatorische Ehrgeiz zielt nicht darauf, die Grenzen des Darstellbaren radikal zu erweitern, sondern ebenso suggestiv zu sein wie die Erstverfilmung.
Sie ist von Edmund Goulding überaus elegant inszeniert; auch das eine Form von Subversion: eine Nobilitierung der Schäbigkeit. Ich entdeckte »Nightmare Alley« wahrscheinlich Ende der 1980er Jahre, nachdem ich mich einige Jahre zuvor für einen Artikel (erschienen im "Filmbulletin") intensiv mit dem Drehbuchautor Jules Furthman beschäftigt hatte. Die wenigen Informationen über den Inhalt, die ich damals hatte, schreckten mich ab: Der Held soll am Ende zu einem geek werden, einem Jahrmarktsfreak, der Hühnern bei lebendigem Leib den Kopf abbeißt? Das schien mir gar nicht zu dem Drehbuchautor zu passen, der praktisch alle meiner Lieblingsfilme von Hawks (»SOS-Feuer an Bord«, »Red River, Rio Bravo« etc.) und einige der besten Filme von Josef von Sternberg (»The Docks of New York«, »Morocco«, »Shanghai Express«) mitgeschrieben hatte. »Nightmare Alley« schien mir seinen Ruf zu bestätigen, Zensurprobleme geschickt zu bewältigen (wie etwa bei »The Shanghai Gesture«, dem verrufenen Spätlicht in von Sternbergs Karriere), aber eigentlich konnte ich seinerzeit wenig mit ihm anfangen.
Seit ich in der letzten Woche meine DVD anschaute (gleich zweimal, auch mit dem Audiokommentar der Noir-Spezialisten Alain Silver und James Ursini), ändert sich das von Tag zu Tag mehr. Die Mutmaßung der Kommentatoren, "Furthman was always connected to perversity", irritierte mich zunächst. Immerhin, für die Sternberg-Filme und „Tote schlafen fest“ mochte das angehen. Die Zwei sahen in ihm vor allem den Szenaristen der klassischen Sternberg-Filme, in denen Marlene Dietrich notorisch häufig in Männerkleidung auftritt, was in der Tat ein Echo findet in den professionell androgynen Kostümen, die Helen Walker in der Rolle der raffinierten Psychiaterin trägt. In diesem Zusammenhang taucht auch ein Begriff auf, der direkt in den Kosmos von Hawks hineinragt: "professional courtesy". Die Komplizenschaft, die zwischen dem überraschend verletzlichen Power und der Femme fatale Walker entsteht, ist die verbrecherische Kehrseite des Ehrenkodexes bei Hawks. Wenn Power in Anerkennung seiner Unterlegenheit zu ihr sagt: "You're good, you're awful (sic) good!", ist das ein Satz, der auch in "Tote schlafen fest" hätte fallen können.
Furthmans Handschrift zeigt sich überdies in der verschworenen Gemeinschaft der Schausteller, die außerhalb der Gesellschaft existiert und ihren eigenen Ehrenkodex besitzt. Für sie gibt es filmische Vorläufer, von denen sie sich deutlich unterscheidet: in „Freaks“ von Tod Browning und in »Saboteure« von Hitchcock, wo sie ein recht ulkiger Haufen sind. »Nightmare Alley« beschwört ihre innige Verbundenheit, ihre legitime filmische Existenz, wenngleich am Rande der Legalität. Zentral ist hier die Rolle der Wahrsagerin Zeena (Joan Blondell ist wunderbar, aber Toni Collette hat keinen Grund, den Vergleich zu scheuen), die gleichermaßen abgeklärt wie aufrichtig ist. Die Schausteller sind Profis, jedoch nicht unbedingt im Hawksschen Verständnis. Power demonstriert eine glühende, indes hochmütige Begeisterung für den Beruf des Illusionenverkäufers. Ein solcher Zynismus ist Furthmans sonstigen Figuren fremd. Er gewinnt freilich eine Ambivalenz in der Szene, in der Power sich nachts mit Zeenas Ehemann Pete unterhält (Ian Keith spielt ihn als haltlosen Alkoholiker, während David Strathairn ihn im neuen Film zu einer moralischen Instanz werden lässt). Petes Hände zittern so sehr, dass Stanton ihm die angezündete Zigarette in den Mund steckt. Dergleichen kann man dutzendfach in Furthmans Drehbüchern finden, angefangen bei »Docks of New York« bis hin zur Apotheose in »Rio Bravo«. Diese Freundschaftsgeste ist mag vorbehaltlich sein (sie sind erotische, auch berufliche Rivalen), aber Power verleiht ihr eine solche Selbstverständlichkeit, dass plötzlich eine ungekannte Intimität zwischen ihnen entsteht, ein kurzes Aufblitzen von Vertraulichkeit und Fürsorge, das man in diesem Film nicht erwartet hätte, das aber im Werk des Drehbuchautors triftig aufgehoben ist.
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