Nicht nur schmallippig
Als jungen Mann konnte man sich ihn einfach nicht vorstellen. So recht war man ihm erst im Stadium bürgerlicher Reife begegnet. Das Saturierte spielte er, als sei er es immer schon gewesen. Aber natürlich war Michel Bouquet, der heute im Alter von 96 Jahren starb, einmal jung. Es gibt Filme, die das belegen.
In »Pattes blanches« (Tödliche Leidenschaft) von Jean Grémillon ist er 1949 noch kaum zu erkennen, so hohlwangig ist sein Gesicht. Seine Gestalt ist feingliedrig, er wirkt zäh und durchaus robust. Etwas verschlagen habe ich ihn auch in Erinnerung. Ein Sympathieträger war er vorerst nicht vor der Kamera. Er entzog sich ihr auch, seine Theaterarbeit war ihm wichtiger, zumal an der Seite von Gérard Philipe. Das war wiederum reizvoll fürs Kino, denn er blieb undurchsichtig. Aber weder Sacha Guitry noch Abel Gance konnten damit viel anfangen. Eine Generation später interessierte sich die Nouvelle Vague für ihn, zuerst noch etwas platonisch Chabrol, dann Truffaut und schließlich erneut und diesmal aus vollem Herzen Chabrol. Für ihn spielte er ab »Die untreue Frau« (1969) den mörderisch angepassten Bourgeois, stets an der Seite von Stéphane Audran. Die Zwei waren auf den ersten Blick eine Mesaillance: ein solcher Überschuss an Trockenheit auf seiner Seite, so viel Sinnlichkeit auf ihrer! Aber Chabrol war nicht dumm. Das Gespann war das emblematische Paar der Pompidou-Ära. Bouquet legte nicht nur großes, zärtliches Verstehen in seine Blicke auf Audran, sondern in die Rollen überhaupt. Das Adjektiv, das ich am häufigsten auf ihn münzte, ist schmallippig. Das bezeichnete seine Figuren gut, die sich unter Vorbehalt offenbarten, aber nicht sein Spiel. Die anderen Filme des Zyklus sind berühmter, aber ich mochte ihn besonders in »Vor Anbruch der Nacht«. 1985 vereinte er das Paar noch einmal in »Hühnchen in Essig«, was ebenso gnadenlos wie vergnüglich anzusehen war.
Truffaut hatte ihn davor schon fürs Genrekino entdeckt. In »Die Braut trug schwarz« war er einer der schäbigen Männer, an denen Jeanne Moreau sich rächt. Gleich darauf besetzte er ihn als Detektiv, der dem Geheimnis der falschen Braut Catherine Deneuve auch dann noch auf den Fersen bleibt, als ihn Jean Paul Belmondo längst entlassen hat. Die Beharrlichkeit war ohnehin ein Markenzeichen seiner Figuren, beispielsweise des rachsüchtigen Inspektors in »Ein Bulle sieht rot« von Yves Boisset, der eigentlich nie wirklich in Deutschland lief, aber vor ein paar Monaten auf arte zu entdecken war. Hartnäckig ist auch der Inspektor, der in „Endstation Schafott“ nicht eher ruht, bis er die Rehabilitation des entlassenen Sträflings Alain Delon sabotiert hat. Der steht eigentlich unter dem Schutz von Jean Gabin, der ein eimfühlsamer, machtvoller Gegenspieler ist. Der deutsche Titel verrät, wie es ausgeht. Diese Rolle war eine brillante Generalprobe für seinen Javert, den er ein Jahrzehnt später in Robert Hosseins Adaption von Hugos „Die Elenden“ verkörperte. Geoffrey Rush, Russel Crowe und viele andere mochten später nach Kräften versuchen, seine Niedertracht zu überbieten. Aber niemand machte Jean Valjean (immerhin Lino Ventura!) auf der Leinwand das Leben so schwer wie Bouquet in »Die Legion der Verdammten«.
Fast 120 Kino- und Fernsehfilme schreibt ihm die IMDb zu. Es sind Perlen darunter. Aber er selbst und das französische Publikum nahm ihn noch stärker als Bühnendarsteller wahr. Er galt als Spezialist für Arnouilh, Ionesco und vor allem Molière; seinen letzten Tartuffe gab er 2017. Ein achtsamer, liebender, auch abgründiger Menschenversteher. Im Kino hatte er ab 1990 großartige Altersrollen, angefangen mit „Die siebente Saite“ und »Toto, der Held«. In diesem Jahrtausend lief er vor der Kamera zu enormer Form auf, er war einnehmend in »Comment j'ai tué mon père«, für den er 2002 seinen erste César erhielt. Mit seinem Leinwandpartner Charles Berling zusammen hat er danach einen Gesprächsband veröffentlicht, in dem man Wesentliches über die Schauspielkunst erfährt. Über den todkranken Mitterand, den er vier Jahre später für Robert Guédiguian in »Letzte Tage im Elysée« verkörperte (ein zweiter César, aber kein Darstellerpreis auf der Berlinale, skandalös!), habe ich in epd Film kurz in einer Päckchen-Geschichte über Präsidenten im Film geschrieben. Dem habe ich Einiges hinzuzufügen: Seine Rolle handelt von der Macht, die die Sprache über die Erinnerung gewinnt. Bouquet ist empfänglich für die tückischen, süffisanten Widerhaken in Mitterands Causerien. Er zelebriert ihn als homme des lettres, als kennerischen Liebhaber französischer Geschichte und Landschaften, als raffinierten Sinnenmenschen. Sein Mitterand führt einen Dialog, der die Erwiderung nicht braucht. Er will den eigenen Apercus ihren Nachklang lassen und sie davor bewahren, von denen der Anderen überdeckt zu werden. Der Sterbende weiß, dass nicht er das letzte Wort haben wird.
Auch seine Darstellung in »Das kleine Zimmer« habe ich seinerzeit in der Zeitschrift gefeiert, der gar nicht so vorhersehbaren Wandel des alten Griesgrams zur fürsorglichen, munteren Vaterfigur ist fürwahr ein stilles Ereignis. Für seinen Renoir im Film von Gilles Bourdos wurde er 2014 erneut für den César nominiert. Er ging leer aus, aber herausragend ist er dennoch als der alte Maler-Patriarch. Bouquet spielt ihn als einen Tyrannen, der liebevoll und nachsichtig umsorgt wird; die Strenge des greisen Hedonisten muss er nicht durch Verschmitztheit mildern. Renoir malt unverdrossen weiter, sein Werk ist einer schweren Arthritis abgetrotzt: Er will hinzulernen, Fortschritte machen! Mit dem jungen Modell Andrée bricht eine neue, aufmüpfige Energie in dieses Idyll ein. Dem Maler steht sie nicht geduldig Modell, sondern bewegt sich selbstbewusst bei den Sitzungen. Renoir ist das nur recht. Seine Kreativität entzündet sich nicht allein am Spiel des Lichts auf ihrer samtenen Haut. Ihre Lebenskraft inspiriert ihn. Auf seinen "Badenden" ist sie zu spüren. Bald taucht sein Sohn Jean auf, der im Krieg verletzt wurde. Sacht legt der Film die Spur einer Rivalität zwischen Vater und Sohn aus. Jean muss sich noch finden. Das Kino, das ihn reizt, gilt dem Vater nichts: Kunst ist etwas, das man mit den Händen schafft! Diese Rolle hatte nicht das letzte Wort. Michel Bouquet blieb dem Kino treu. Seine letzte Rolle spielte er dort vor zwei Jahren. Unglaublich, da war er 94, ein Wunder ausdauernder Sorgfalt. .
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