Der Gegenspieler

Heute vor 100 Jahren feierte Fritz Langs erster Film über Dr. Mabuse Premiere. Ein folgenreiches Datum, nicht nur im Hinblick auf die Spuren, die der Meisterverbrecher in der Filmgeschichte hinterließ. Er hat auch in der Realität furchtbare Nachahmer gefunden; aktuell jene Populisten und Autokraten, die sich heute als die Lösung der Probleme präsentieren, die sie selbst erzeugt haben.

Der umschweifige Titel seines Leinwanddebüts (»Dr. Mabuse, der Spieler. Teil 1: Der grosse Spieler – Ein Bild der Zeit«) stand dieser einzigartigen Rezeptionsgeschichte nicht entgegen. Es war zweigeteilt, die Fortsetzung (»Teil 2: Inferno, ein Spiel von Menschen unserer Zeit«) startete vier Wochen später. Lang selbst kam ohnehin nicht von der Figur los. Mit dem selben Hauptdarsteller (Rudolf Klein-Rogge), aber unter anderen Vorzeichen und anderem Namen tritt sie in »Spione« auf den Plan. Offiziell griff Lang sie zehn Jahre später und dann noch einmal 1960 in seinem letzten Film auf. Diese Wiederbelebungen unternahm er zaudernd, aber gründlich: Keine Gestalt schien ihm so sehr geeignet, den Puls der jeweiligen Zeit zu nehmen. Sie musste sich nicht verändern, nur reinkarniert werden. Es war allerdings schwer, ebenbürtige Kontrahenten zu finden. Am Ende seines ersten Leinwandauftritts bringt ihn der Staatsanwalt Wenk vorerst zur Strecke. Danach brauchte es mindestens zwei Gegenspieler, um die Bedrohung zu bannen, die von ihm ausging: in »Das Testament des Dr. Mabuse« den Kommissar Lohman und ein abtrünniges Bandenmitglied; in »Die tausend Augen des Dr. Mabuse« wiederum einen Berliner Kommissar sowie einen amerikanischen Millionär und einen aufdringlichen Interpol-Agenten. Aber ihre Siege waren befristet, Mabuse war auf Serie angelegt.

Das hatte er von seinen Vorbildern geerbt, einerseits der Fortsetzungsgeschichte, die sein Erfinder Nobert Jacques in einer Berliner Zeitung veröffentlichte, andererseits den Schurken aus Louis Feuillades Filmfeuilletons um Fantomas und die Vampire. Auch sie waren Anarchisten, die Chaos und Terror verbreiten wollten, aber doch romanesker. Sie operierten weniger nüchtern und strategisch, mehr aus einem intuitiven, launischen, anti-bourgeoisen Furor heraus. Dr. Mabuse hingegen strebte danach, eine schrankenlose Herrschaft des Verbrechens zu errichten. Langs Figuren, die Bösen wie die Guten, agieren ohnehin immer eine Spur intelligenter und findiger, als man es sonst aus dem Genrekino gewohnt ist. Der Abkunft von Feuillade war er sich indes bewusst. Seinen Mabuse stellt er mit einem Kartenspiel vor, das ihn in ebenso vielen Masken zeigt, wie es Feuillade mit seinen Fantomas zu Beginn jeder Episode getan hatte. Auf einem der Plakatmotive für den ersten Films überragt Mabuses Gestalt die Stadt – genauso dreist und elegant, wie Fantomas zuvor Paris in Besitz genommen hatte.

Dr. Mabuse steht also erst einmal in der Tradition der Kolportage. Er kommt Langs Faible für das Triviale entgegen, seiner Begeisterung für Exotik, das Okkulte und Klandestine. Die Helden seiner frühen Filme treibt eine geradezu kindliche Unternehmungslust an, selbst der strenge Staatsanwalt Wenk ist ein Abenteurer. Lang gehörte jener Generation von Regisseuren an – man denke an Hawks, Hitchcock, Murnau und Walsh -, die in ihrer Jugend miterlebten, wie das Kino von einem Jahrmarktsvergnügen zu einer aufstrebenden Kunst wurde. Vielleicht hat keine spätere das Medium ernster genommen als sie, denn sie waren Zeugen der rasanten Fortschritte, die die Filmsprache machte. Zugleich verlor Lang nie aus den Augen, dass das Kino erst einmal Sensation und Spektakel bedeutete. Deshalb fand ich seinen ersten Mabuse-Zweiteiler und „Spione“ immer die sympathischsten (ich weiß, ein merkwürdiger Begriff, aber lassen Sie sich ihn ruhig mal auf der Zunge zergehen im Vergleich mit »Metropolis« und »Die Nibelungen«) unter seinen Stummfilmen. Sein Gespür für Stoffe war verführerisch, sie gehören zu den wenigen in der deutschen Filmgeschichte, die Remakes generierten.

Diese raffinierte Trivialität erklärt zur Hälfte den Einfluss, den sein frühen Mabuse-Filme beispielsweise auf Hitchcock, die Bond-Saga und leider auch Claude Chabrol ausüben sollten. Die andere Hälfte ist nicht weniger bezeichnend für diesen Regisseur. Er verfolgte das Weltgeschehen mit größter Aufmerksamkeit.  Viele Drehbuchideen entnahm er und seine Ehefrau Thea von Harbou den Vermischten Nachrichten. Ihre Spielart der Kolportage war wachsam, elastisch und brandaktuell: eine Interpretation, ja auch Analyse der Wirklichkeit. Mein neu gewecktes Interesse am Mabuse-Mythos ist übrigens der Ausstellung über Expressionismus und Film in der Kunsthalle Emden geschuldet, über die ich für die Mai-Ausgabe von epd Film geschrieben habe und die ihr Motto direkt von Lang übernommen hat: "Ein Bild der Zeit". Es ist natürlich ein phantastisches Zeitbild, das er durch und um Mabuse herum entwirft, aber eben deshalb empfänglich für deren Stimmungen. Lang selbst brachte in Interviews gern das Zeitklima der Weimarer Republik ins Spiel, die tiefe Verzweiflung und Hysterie, den Zynismus und Sittenverfall, die zwischen Kriegsende und Hyperinflation herrschten. Spekulationskino: Seinen ersten großen Coup landet Mabuse an der Börse. Mit dem Gewinn hätte er eigentlich schon ausgesorgt, aber das genügt ihm nicht:

Die Begierden haben ein anderes Tempo in diesem ersten Mabuse-Abenteuer. Der Film selbst ist nicht rastlos, sondern im Gegenteil umsichtig, ausführlich, er verdickt den Zeitfluss mitunter gar. Das hat mich beim Wiedersehen überrascht. Langs deutsche Großfilme sind mindestens doppelt so lang wie seine amerikanischen Genrearbeiten. Aber es findet sich ebenso wenig Überflüssiges in ihnen. Die Zeit spielt hier eher eine strukturierende Rolle, als dass sie den Rhythmus vorgibt. Jeder Akt beginnt damit, dass die Tageszeit angegeben wird; die räumliche Verortung ist den Zwischentiteln im Gegenzug erstaunlich unerheblich.

Das Erleben und die Wahrnehmung der Figuren ist anders: eine atemlose Folge der Geschehnisse. "Ich mache das nicht mehr mit, dieses 200-Kilometer-Tempo, das ist moderne Menschenfresserei", schimpft einer der Handlanger eingangs. Die Gesellschaft, die Lang zeigt, jagt nach Sensationen. "Karten oder Kokain?" fragt der Einlasser eines Nachtklubs, in dem Wenk den geheimnisvollen Unbekannten sucht. In den mondänen Zirkeln gilt es, den Ennui zu bekämpfen, die innere Leere für einen Moment erträglicher zu machen. Von dieser Malaise ist insbesondere die Gräfin Told betroffen, die leidenschaftlich passive Zeugin aufreibender Schicksale, die sich an den Spieltischen entscheiden. Es ist ein merkwürdiger Rausch zwischen Lethargie und Frenesie, den Lang hier inszeniert.

Mein eigener Elan lässt gerade nach. Wie sein Gegenstand verlangt auch dieser Eintrag nach einer Fortsetzung. Nicht in vier Wochen, sondern den nächsten Tagen.

 

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