Das Schattenfestival
Heute beginnt das 75. Filmfestival von Cannes. Jurypräsident Vincent Lindon ist gespannt auf den Austausch mit seinen KollegInnen und hofft, im Wettbewerb Filme zu sehen, die etwas über den Zustand der Welt aussagen. Er hat sich vorgenommen, keine Interviews zu geben. Das sagt er zumindest im Interview, das er vor einigen Tagen „Le Monde“ gab.
Solche Diskretion steht ihm in seinem Amt selbstverständlich gut an. Diesen Vorsatz verletzt er nicht, wenn er im Vorfeld erklärt, er sähe sich keine Blockbuster an. „Top Gun: Maverick“ läuft außer Konkurrenz und fällt somit nicht in seine Zuständigkeit. Für ihn persönlich funktionieren sie nicht. Es gebricht ihm einfach an Identifikation, wenn Tom Cruise von einer sechs Meter hohen Mauer springt. Zwei Meter hingegen wären in Ordnung.
Was ebenfalls nicht in seinen Verantwortlichkeit fällt, ist der Markt. Er findet zum ersten Mal seit 2019 wieder physisch statt und soll größer werden als je zuvor. Die Zeichen stehen auf Neuanfang, zumal sich die Landschaft für unabhängige Produktionen durch Pandemie und Streamingdienste radikal verändert hat. Es werden große Namen und illustre Projekte gehandelt. Filme mit Juliette Binoche, Olivia Colman, Tom Hanks und Liam Neeson suchen Käufer bzw. Finanziers; das Sequel zu „Dirty Dancing“, das Prequel zu „Hunger Games“ und das Reboot von „The Crow“ hoffen auf weltweite Abnehmer. Der unermüdliche Richard Linklater ist auf dem Markt ebenso vertreten wie zwei Cannes-Abonnenten, Nanni Moretti und David Cronenberg. Letzterer hat ja bereits einen neuen Film im Wettbewerb und stellt im Markt sein nächstes Vorhaben „The Shrouds“ mit Vincent Cassel vor. Er scheint es wirklich ernst zu meinen mit seinem Comeback. Audrey Diwan sucht Geldgeber für das Remake von „Emmanuelle“, in dem Léa Seydoux die Titelrolle spielen soll. Die Zahl der Hoffnungsvollen, die auf den Marktplatz drängen, ist Legion, nur zwei hochkarätige Namen noch: Michel Gondry und George Miller. Gut möglich, dass einige dieser Filme in den 76. Wettbewerb eingeladen werden.
Aber der Markt weist selbstverständlich noch ganz andere Schattierungen auf. Bestimmt buhlen auch wieder Projekte um die Aufmerksamkeit der Geldleute, die nur aus einem Plakatmotiv, einem Titel, einer Drehbuchidee und einer hochstaplerischen Hotelsuite bestehen. Manche von ihnen können mit altgedienten Recken aufwarten, deren Namen an den Kinokassen nicht mehr viel reißen, aber immer noch einen guten Klang haben in Käuferkreisen. Eine Besonderheit des diesjährigen Filmmarkts ist die große Anzahl von Verfemten, die auf eine neue Chance hoffen. Man könnte fast von einem neuen „Festival du film maudit“ sprechen, aber dieser Titel war 1949 ja als Gütesiegel der Subversion gemeint, als Aufwertung des Randständigen, Nicht-Marktgängigen.
Hier ist vielmehr eine ökonomische Rehabilitation in vollem Gange, von Vehikel mit Alec Baldwin, Johnny Depp (als Louis XV, an der Seite und unter der Regie von Maiwenn) und James Franco profitieren wollen. Auch Luc Besson und Roman Polanski suchen Interessenten für ihre nächsten Projekte. Der Milleniumswechsel-Hotelfilm „The Palace“, den Polanski derzeit in der Schweiz (u. a. mit Mickey Rourke) dreht, gehört zu dem wie immer zum Bersten gefüllten Portfolio von Wild Bunch. Anfragen von „Deadline“ zu dem Film lehnte der mächtige Weltvertrieb ab. Das amerikanische Branchenmedium führte ein Interview mit Festivaldirektor Thiery Frémaux, in dem dieser offenbar allzu freimütig über eine mögliche, spätere Rückkehr des Regisseurs in den Wettbewerb sprach, welches es dann aber nicht veröffentlichte, da das Festival – präzedenzlos - auf einer nachträglichen Autorisierung und zahlreichen Korrekturen bestand.
Wäre man Verschwörungstheoretiker, könnte man von einer konzertierten Aktion gegen die Löschkultur sprechen. Ein Kulturkampf wird jedoch mitnichten im Markt stattfinden, denn die Feuilletonjournalisten sitzen ja im offiziellen Programm. Ein Paralleluniversum tut sich hier unter dem Radar einer kritischen Öffentlichkeit dennoch auf. Zumal, wenn man sich anschaut, wie massiv Kevin Spacey heuer an seiner Rückkehr ins Rampenlicht arbeitet. Gleich drei Titel stellt er im „Marché du film“ vor, darunter die umstrittene Regiearbeit von Franco Nero, an welcher dessen Frau Vanessa Redgrave aus Protest nicht mitwirken wollte. Die ist mittlerweile tatsächlich abgedreht. So weit gediehen sind die anderen Projekte noch nicht, eine mongolische Co-Produktion über Aufstieg und Fall des Enkels von Dschingis Khan sowie ein Thriller namens „Peter Five Eight“. Dieser wird mit dem Slogan „Die Schuldigen zahlen am Ende immer“ beworben. Spekuliert er mit der schwefelhaften Fama des Schauspielers? Oder seiner Gabe zur Selbstironie? Wir kamen in den letzten fünf Jahren eigentlich ganz gut ohne sie zurecht.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns