Alte Zweifel, neue Fragen
Die Kinogeschichte ist reich an Küssen, die eindringlich, heftig, verheißungsvoll und animierend sind. Die Liste ist so lang, dass die Frage aussichtlos erscheint, was der definitive Leinwandkuss ist. Der Prolog von „Trouble every day“ jedoch gibt sich enorme Mühe, diesen Rang zu erstreiten.
Ein Paar, das uns vorher und auch danach unbekannt bleibt, küsst sich so leidenschaftlich und ausdauernd, als wolle es einen unstillbaren Hunger befriedigen: als habe es die Hoffnung, mit ihren Zungen würden auch ihre Seelen sich verschlingen. Fordern und Geben sind eins. Ihr Kuss will kein Ende nehmen. Er muss es natürlich irgendwann, aber die Kamera verharrt lang genug auf ihm, dass er eine emblematische Dimension gewinnt: losgelöst von Zeit und Raum und eigentlich auch dem Film, dessen Auftakt er bildet.
Auf Anhieb ist auch dies wieder ein Eintrag, der von geglücktem Timing handelt: Claire Denis' Film startet nur wenige Tage nach der Berlinale, auf der sie den Regiepreis erhielt. Er ist 21 Jahre alt, aber kam bisher nie regulär in unsere Kinos, obwohl das ZDF ihn mitproduziert hat. Ich bin gar nicht mal sicher, dass es an seinem Thema liegt, dem Kannibalismus. Nun bringt ihn Rapid Eye Movies in vielen Städten gleichzeitig heraus; womöglich hat „Titane“ dafür den Weg bereitet Es trifft sich überdies, dass pünktlich vor 100 Jahren „Nosferatu“ anlief.
Ob das auch für mich der richtige Zeitpunkt ist, wird sich womöglich im Verlauf dieses Textes zeigen. Als ich „Trouble evry day“ im Juli 2001 in Paris sah, erlebte ich die erste massive Entzauberung meiner Begeisterung für Claire Denis. Das hatte wenig mit der Frage zu tun, ob man dergleichen überhaupt auf die Leinwand bringen und wie weit man dabei gehen darf. Bei seiner Premiere in Cannes, wo er außer Konkurrenz als Mitternachtsfilm gelaufen war, hatte er einen mittleren Skandal ausgelöst. Zwei Kinogängerinnen brauchten medizinischen Beistand, und das halbe Publikum regte sich über das Ejakulat auf, dessen sich Vincent Gallo mithilfe eines Spezialeffektekünstlers entledigte.
Das alles wusste ich noch nicht an diesem Sommernachmittag. Ich war vielmehr empört über den erzählerischen Hochmut, mit dem der Film sich über alle dramaturgischen Verpflichtungen hinwegsetzte. Sein Drehbuch erschien mir als eine Unverschämtheit, ein willkürliches Labyrinth, selbstgefällig in seinen Tabubrüchen, prätentiös in seiner Symbolik und bevölkert von Darstellern, die wie in Trance agierten. Das war mal verheerend (Gallo), dann wieder furios (Béatrice Dalle) und eröffnete dazwischen einen beklagenswerten Mittelgrund der Ausdruckslosigkeit. Immerhin erdete Alex Descas als Dalles besorgter Ehemann das Ganze ein wenig. Mir war klar, dass die „Cahiers du cinéma“ den Film lieben würden. Tatsächlich verherrlichte jedoch ein Gutteil der französischen Kritik ihn damals, was mich zuerst überraschte und mir dann recht abgezirkelt erschien: Im Land der Autorenpolitik genügt es eben zuweilen schon, dass eine Autorenfilmerin sich herausnahm, was ihr eben in den Sinn kam.
Ich hatte den Eindruck, dass hier niemand dieselbe Sprache wie sein Gegenüber sprechen durfte, sondern dass einfach nur Präsenzen miteinander kollidieren sollten. In meinen Augen war der Film fahrlässig somnambul. Mein Geduldsfaden riss früh: in dem Moment, als die blutrünstige Dalle aus heiterem Himmel eine Motorsäge unter ihrem Bett hervorholt, um sich aus der Haft des Zimmers zu befreien, das Descas wohlweislich mit zahlreichen Schlössern versehen hatte. Wie kam die Säge dorthin? Das war keine törichte Frage, aber das störte offenkundig jene Schule der Filmkritik nicht, der die bloße Verweigerung von Erklärung oder szenischer Herleitung per se bereits als Tugend erscheint.
Ich fand, dass sich Denis schleunigst von ihrem langjährigen Co-Szenaristen Jean-Pol Fargeau trennen sollte, was sie zu meiner hellen Freude beim nächsten Film dann, zumindest kurzzeitig, auch tat, bei dem fiebrig-romantischen Rencontre „Vendredi Soir“, welchem ich noch immer brennend einen Deutschlandstart wünsche. Allerdings begriff ich schon 2001, dass die Kannibalismus-Etüde eine triftige Konsequenz in der Zusammenarbeit der Regisseurin mit der Kamerafrau Agnès Godard besaß. Sie schrieb jenes sinnliche Drängen fort, dem das bloße Betrachten nicht mehr genügt und zur Berührung übergehen will. Aber würde „Trouble every day“ es mir heute, 21 Jahre später, recht machen?
Das Somnambule passt zugegebenermaßen zu der Vision, die Denis entwirft. Das Drehbuch finde ich inzwischen flau. Die Spannung zwischen dieser Vision und Denis' erzählerischer Hingabe an Realschauplätze könnte ertragreicher sein. Den Vorwurf hingegen, die Tabuverletzung sei selbstgefällig, kann ich nicht mehr aufrechterhalten. Ich glaube, Denis brauchte sehr viel Mut damals. Wir wünschen uns von Filmemachern ja immer, dass sie furchtlos sind, wir fordern es geradezu. Ihre Zweifel nutzen wir Kritiker gern für unsere Rhetorik. Aber von deren Wirklichkeit machen wir uns kaum einen Begriff. Welche Hindernisse mochten die Bedenkenträger bei der Förderung und in den Redaktionen ihr in den Weg gelegt haben? Wie schwer mag es auf dem Set gewesen sein, Vertrauen zu schaffen und die Widerstände der Darsteller gegen eine solche Entäußerung zu überwinden? Es wäre ein Leichtes, zu sagen, Denis sei den Weg konsequent weitergegangen, den sie eingeschlagen hatte.
Ihre Filme führen schließlich an die Grenzen des Begehrens und in die dunklen Zonen der Phantasie. Sie stoßen zu extremen Erfahrungen von Gewalt und Erotik vor, verlocken das Publikum, sich in ferne, exotische, beklemmende Innenleben einzufühlen. Dass Schrecken und Schönheit in ihrem filmischen Kosmos so untrennbar beieinander liegen, ist in „Trouble every day“ aber schwer auszuhalten. Beim Wiedersehen wurde mir klar, dass ihr Blick nicht nur ungeniert zärtlich ist, sondern fragil. Dem Körperhorror nähert sie sich vorsichtig an, ohne Zögern, aber indirekt. Anfangs ist er fast abstrakt: dicke Tropfen, die von Grashalmen rinnen, künden von Dalles erstem Blutrausch, den Descas nächtens entdeckt. Kein Zweifel, Denis hat von Jacques Tourneur gelernt.
Was ich damals nicht sah, ist der Vorbehalt, unter dem das Begehren in „Trouble every day“ steht. Gallos Blicke auf den Nacken und die Fesseln des Zimmermädchens im Hotel verstören in ihrer Fokussierung. Er sieht nicht deren Schönheit, sondern schaut auf eine Beute. Wenn die Kamera über den Torso des todgeweihten Nicolas Duvauchelle gleitet, löst sich ihr Blick auf ähnliche Weise von dem Dalles ab. Tut er es rechtzeitig? Danach bleibt ihm keine Wahl, als das Entsetzliche zu beglaubigen. Dalle ist grandios besetzt, nicht nur wegen ihres emblematischen Mundes, sondern der Aura unschuldiger Perversion, die man ihr unterstellt. Sie verkörpert ein Raubtier, das verschlingen will und nicht begreift, was es anrichtet - aber letztlich doch spürt, dass es von seiner Natur erlöst werden muss. „Ich will nicht mehr warten“, lautet ihr einziger Dialog, „ich will sterben.“
Die Graffiti, mit denen Dalle das Zimmer nach Duvauchelles Tod verziert hat, sind ein Schreckensbild, dessen Anschaulichkeit man sich nicht entziehen kann. Allerdings denke ich, dass Denis nicht auf seiner Unwiderstehlichkeit beharrt. Die Blutmalereien des Films behalten nicht das letzte Wort. Denn zuvor fand zwischen Bild- und Tonebene ebenfalls eine Ablösung statt, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Die Agonie der Opfer ist die Kehrseite des Begehrens, die anzuschauen unerträglich ist. Die Schmerzensschreie jedoch sind so laut, dass sie einem durch Mark und Bein gehen. Sie scheinen kein Ende zu nehmen. Der Tonschnitt, der sie beendet, ist nicht barmherzig, sondern verzweifelt. Er löscht nicht aus, was wir zuvor miterlebten. Fertig wird man mit diesem Film nicht, weder nach 21 Jahren noch in Zukunft.
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