Eine Korrektur
Die Vermählung von Film und Musik ist komplex und vielgestaltig. Mal erweist sie sich als Liebesheirat, mal als Vernunftehe, aber hoffentlich immer als eine Zugewinngemeinschaft. Filmmusik bewegt. Das Publikum begeistert sie häufig auch dann, wenn sie ein Eigenleben führt. Sie kann unabhängig vom Film funktionieren und Faszination ausüben.
Das gilt zumal für Filme, die unsichtbar sind, wie ich es gestern für »Zimmer 212« von Christoph Honoré konstatieren musste. Dennoch hat er erstaunlich viele LeserInnen dieses Blogs beschäftigt. Ich habe selten so viele und so lebhafte Reaktionen auf einen Eintrag bekommen wie im Fall von "Atmosphärischer Einspruch". Sie waren sehr unterschiedlich. Eine machte mir klar, dass er dringend der Nachbesserung bedarf.
Aber fangen wir unverfänglich an. Eine treue Leserin freute sich beispielsweise, dass im Soundtrack endlich Catarina Valente als Jazzinterpretin zur Geltung kommt. Alles junges Ding, schrieb sie mir, war sie ganz begeistert von ihren Aufnahmen mit Chet Baker gewesen. Auf Youtube fand sie eine Menge wieder. Tatsächlich wurde sie in den USA ja besonders geschätzt. Ich erinnere mich noch gut an ein Konzert, das Mel Torme vor Jahrzehnten im Rahmen des Berliner Jazzfestes gab. Gleich zu Beginn begrüßte er Valente im Publikum: voller Stolz und Bewunderung.
Wenn Sie jetzt denken, ich schweife ab, haben Sie zur Hälfte recht. Aber dass sie hier zu Lande vorwiegend als Schlagersängerin wahrgenommen wurde, führt mich zur nächsten Wortmeldung. Ein Filmemacher, der seinen Namen wahrscheinlich nicht in diesem Zusammenhang lesen möchte, simste mir, ohne ihre großen Filmmusiken wäre die Nouvelle Vague nicht das, was sie ist. Er forderte mich auf, doch einmal etwas über die hiesige Misere zu schreiben. In Deutschland wäre ein solcher Film überhaupt nicht möglich. Der Musikposten stünde im Budget immer an letzter Stelle und sei dementsprechend gering. In den letzten 50 Jahren sei bei uns keine einzige Filmmusik komponiert worden, an die man sich noch erinnern könne. In unserer Schlagernation fehle es auch an Liedern, die ein vergleichbares Flair besäßen und eindringlich ein Lebensgefühl vermittelten. In der Tat fiel mir keine Melodie ein, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat.
Wie trügerisch und lückenhaft die Erinnerung sein kann, wurde mir beim Lesen eines Kommentars deutlich, den die Verfasserin nicht veröffentlicht sehen wollte, sondern über die Redaktion an mich persönlich schickte. Das ist bedauerlich, denn sie widerlegte kenntnisreich und triftig meine Vermutung, das Zitieren populärer Musikstücke sei eine Erfindung der Nouvelle Vague. Als Gegenbeispiele führte sie zwei frühe Tonfilme von Hitchcock an, zunächst „Blackmail“ (Erpressung) von 1929, wo mehrmals das seinerzeit beliebte Stück "Miss Up-to-date" erklingt, zuerst am Klavier gespielt, und danach als gewissermaßen psychologisches Echo. In »Murder« (Sir John greift ein) setzt der Regisseur im Jahr darauf Passagen aus Beethovens Fünfter Symphonie dramaturgisch markant ein. In der berühmten Rasierszene vor dem Spiegel sind zudem Teile von "Tristan und Isolde" zu hören - im Gespräch mit Truffaut erzählt er, dass er dafür in den Studiokulissen ein 30köpfiges Orchester versteckte, dass live spielte.
Ihre Vermutung, die französischen Hitchcock-Bewunderer hätten sich ihre Zitierlust tatsächlich bei ihm abgeschaut, überzeugt mich nicht vollends. Aber nach dem Einwand der Leserin ist meine im Oktober aufgestellte These natürlich unhaltbar. Klassische Musik hatte ich indes bewusst ausgenommen. Natürlich hat sie einen großen Stellenwert in der Filmgeschichte, man denke an Peter Lorre, der in »M« mehrmals Griegs "Peer Gynt"-Suite pfeift oder an Rachmaninows Zweites Klavierkonzert, das in David Leans »Brief Encounter« (Begegnung) eine dramaturgisch bedeutsame Rolle spielt (ebenso wie später in Billy Wilders »Das verflixte 7. Jahr«). Ich dachte vielmehr an populäres Liedgut des 20. Jahrhunderts. Dennoch gab es nach diesem Kommentar kein Halten mehr. Der Damm des Vergessens musste brechen.
Überhaupt: Wilder! Sogleich fiel mir ein, dass er enormes Geschick darin entwickelte, bekannte Songs um ihres Wiedererkennungswertes willen in seine Filme einzuflechten. Von »Sabrina« an fungiert "Isn't it romantic?" von Rodgers & Hart als Motto des sträflich unterschätzten lyrischen Strangs in seinem Werk. Sein zweiter Film mit Audrey Hepburn, »Ariane - Liebe am Nachmittag«, steckt voller prominenter musikalischer Zitate ("C'est si bon", "Fascination", aber auch ein entlegeneres Chanson von Charles Trenet). Das Gleiche gilt für »Avanti«, wo unter anderem "Senza Fine" von Gino Paoli erklingt, über dessen filmische Strahlkraft ich längst schon einen Blog schreiben wollte, seit ich ihn anlässlich von Bertoluccis »Vor der Revolution« (»Die Dächer von Parma« vom 10.4.2020) entdeckte.
Mein alter Freund Heiko wiederum erinnerte mich daran, dass Otto Preminger in seinem Film Noir »Laura« ursprünglich Duke Ellingtons "Sophisticated Lady" einsetzen wollte (in der Romanvorlage dient "Smoke gets in your eyes" von Jerome Kern und Otto Harbach als Leitmotiv), wogegen der Komponist David Raksin entschieden protestierte,. Ihn empörte, dass die Verse von Irving Mills und Mitchell Parish nahe legten, die besungene Figur und folglich die von Gene Tierney gespielte Filmheldin sei eine Hure. Der Regisseur gab ihm das Wochenende, um eine Alternative zu finden. Dass Raksin am Freitag einen Brief seiner ersten Ehefrau vorfand, in dem sie ihm mitteilte, sie wolle sich scheiden lassen, beflügelte ihn. Seine Titelmelodie wurde unsterblich. Nachdem Hoagy Carmichael einen wunderbar rätselhaften Text dazu verfasste, avancierte sie zum „second most recorded song in history“ und taucht später in einem halben Dutzend Filmen auf, darunter »10 – Die Traumfrau« von Blake Edwards sowie im letzten Jahr »On the Rocks« von Sofia Coppola.
Wie weit dieses von mir ignorierte Feld ist, wurde endgültig bei einem Telefonat mit meinem Pariser Gewährsmann Binh klar. Er hatte sich gerade mit Fritz Lang beschäftigt und berichtete, dass "Melancholy Baby" in »Scarlet Street« (Straße der Versuchung) ertönt. Markante Songs dienten darüber hinaus im klassischen Hollywood dazu, eine Epoche zu evozieren. Er nannte »The Roaring Twenties« (Die wilden Zwanzigercvon Raoul Walsh, wo 1939 das Publikum die Prohibitionszeit allein schon anhand der Lieder identifizieren konnte. »The Man I love«( Besuch in Kalifornien, ebenfalls von Walsh) wiederum verdankt seinen Titel gar dem gleichnamigen Torch-Song von Gershwin. Er ist 1947, als der Film herauskommt, bereits ein Standard, den Ida Lupino in einem Nachtclub singt. Wie viele Gegenargumente zu meiner These es wohl noch geben mag? Die Liste ist wahrscheinlich endlos. Aber wie heißt es so schön: Vergessen ist das Glück des Entdeckens.
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