Eine Begegnungskünstlerin
Als ich sie zum ersten Mal traf, unterschätzte ich ihre Schönheit. Ich war ernsthafter damals und wollte sie als Charakterdarstellerin interviewen. Das war natürlich kein Fehler, aber doch nicht ganz gerecht. Ich erwies dem Filmstar Marina Vlady zu wenig Respekt. Die Hommage des Berliner Arsenal, die heute Abend beginnt, bietet nun die Chance, das Versäumnis nachzuholen.
Der Titel der Filmreihe zeigt bereits, wie vielschichtig diese Persönlichkeit ist: "Star, Kosmopolitin, Aktivistin". Mit insgesamt 22 Filmen und einem dokumentarischen Porträt ist sie umfangreich genug, um ihre Karriere und Ausstrahlung hinreichend zu fassen. Beide sind einzigartig. Seit Anfang der 50er Jahre hat sie praktisch das gesamte europäische Autorenkino durchquert, hat mit Regisseuren wie Michel Deville, Luciano Emmer, Giuseppe de Santis, Marco Ferreri, Jean-Luc Godard, Miklós Jancsó, Sergej Jutkewitsch, Márta Mészáros, Ettore Scola, Bertrand Tavernier und Orson Welles Welles gedreht. In ihrem Leben und Schaffen hat sie auf beeindruckende Weise den Eisernen Vorhang überwunden. Marina Vlady hat viel zu berichten, wenn sie heute aus Paris anreist.
Dass sie nicht nur aus einem reichen Schatz an Anekdoten schöpfen kann, durfte ich 1988 erleben, als ich sie für "die tageszeitung" interviewte und auf dem Set von »Follow me« (den die Regisseurin Maria Knili im Arsenal vorstellen wird) im Grunewald besuchte. Mein Manuskript und die Belegexemplare sind seither einer Überschwemmung des Kellers zum Opfer gefallen. Aber das Gespräch mit ihr ist mir noch immer ganz präsent. Etliche der Filme, über die wir sprachen, kannte ich seinerzeit noch gar nicht. Aber sie war eine enthusiastische Komplizin dieser Unternehmung. Sie wurde in einer Künstlerfamilie geboren und trat mit ihr, noch als Kind, in der allerersten Fernsehsendung auf, die in Frankreich ausgestrahlt wurde. Ihre Schwester Odile Versois wurde ebenfalls Filmstar. Vlady beschrieb ihre Karriere als eine Folge der Begegnungen, war dankbar, mit so vielen Leuten gearbeitet zu haben, die sie bewunderte und großartig porträtieren konnte. Wenn sie von Rollen sprach, führte sie oft das Wort Geschenk im Munde. Gewiss, sie haderte damit, dass man sie so häufig als Prostituierte besetzte. Aber über den Rollentyp wuchs sie hinaus. Sie war heilfroh, dass sie das Angebot abgelehnt hatte, Angélique zu spielen. Danach hätte man sie nur noch mit dieser Figur identifiziert. (In der Tat, Michèle Mercier verbindet man nur ihr, obwohl sie auch schöne Auftritte bei Truffaut und Melville hatte). Marina Vlady wollte sich keine Grenzen setzen.
Ich glaube, meine Redakteure bei der "taz" waren enttäuscht, dass ich sie so wenig zu Wladimir Wyssozki befragt hatte. Aber das Buch, das sie über ihre Ehe geschrieben hatte (»Eine Liebe zwischen zwei Welten«) erschien erst drei Jahre später in deutscher Übersetzung. In den 1980ern hatte sie ohnehin angefangen, sich als Schriftstellerin neu zu erfinden, veröffentlichte Romane und ein Buch über ihre illustre Familie. 2005 erschienen in Frankreich ihre Memoiren "24images/seconde", in denen ich auf jeder Seite meine einstige Gesprächspartnerin wiedererkannte. Dreharbeiten beschreibt sie meist als ein tägliches Glück, was aber nicht monoton wirkt, da sie ihren Erfahrungen und eben den Begegnungen gerecht werden will. Eine tolle Gleichzeitigkeit herrscht in diesem Buch, das von der Arbeit und der Wiederbegegnung mit den KollegInnen (oft Jahrzehnte später) berichtet. Und noch einmal: Was für eine Karriere! Kaum hat sie »Zwei Frauen« mit Márta Mészarós abgedreht, da geht es schon nach Mexiko, wo sie in einem Horror-Reißer von René Cardona jr. mitspielt. Es ist die Lebenschronik einer unermüdlich Neugier auf das, was sie noch nicht kennt und ausprobieren will. Sie ist eine gewissenhafte Schwärmerin geblieben, was auch erst einmal gelernt sein will. Warum unterschätzt man nur so oft diejenigen, die großzügig umgehen mit dem Lob für die Anderen?
Ein Jahr später war sie eine der Traumfrauen, denen die Retrospektive der Berlinale über Filmstars fünfziger Jahre gewidmet war. Ich fragte bei der Kinemathek an, ob man Vlady nicht einladen wolle: Sie würde der Reihe enormen Glanz verleihen als begeisterte und begeisternde Erzählerin. Das Zögern verblüffte und empörte mich. Sie sei wahrscheinlich nicht mehr bekannt genug, beschied man mir in vorauseilender Resignation. Das waren eben die Kosslick-Jahre. Mit der Aktivistin Vlady hätte man ihn bestimmt kriegen können.
Dazu hätte man allerdings so klug sein müssen wie Gary Vanisian, der nun die Reihe im Arsenal kuratiert. Über seine Aktivitäten beim Filmkollektiv Frankfurt habe ich an dieser Stelle schon häufiger geschrieben. Großartig, wie er seinen Steckenpferden treu bleibt! Im letzten Jahr gelang es ihm, Vlady und ihren ersten Ehemann Robert Hossein zu überzeugen, eine Retrospektive seiner Regiearbeiten zu präsentieren. Dieser Plan ist, glaube ich, dann doch an Corona gescheitert. Einige ihrer gemeinsamen Filme laufen jetzt. Sein Nachruf auf Hossein in epd Film ist sehr kundig und liebevoll. Dank seiner Beharrlichkeit darf ich Marina Vlady endlich auch als Star entdecken.
Insgeheim habe ich diese Aura natürlich auch 1988 schon gespürt. Aber nun habe ich sie im Vorfeld in ein paar Rollen gesehen, die diesen Status bestätigen. Sie verleiht den Gesten und dem Gang eine jene Selbstverständlichkeit, die dafür unverzichtbar ist. Sie hat das Gesicht eines Stars: eines, das es aushält, betrachtet zu werden. Die hohen Wangenknochen könnten ihm etwas Maskenhaftes geben, aber ihre Züge erstarren nie. Vielmehr spiegeln sie Anspannung oder Sanftheit. Ihren Mundwinkeln gelingt ein Lächeln spielend leicht, aber die Wehmut ist ihnen nie fremd. Das ist trefflich in Michel Devilles französischer Scewball comedy »Das Spiel der Lüge«, wo sie erst eine aufgekratzte Komödiantin ist und mit ihrer Schwester Macha Méril einen Wettbewerb der Capricen aufführt. Selbst die Albernheiten sind hier geistreich. Köstlich, wie sie als gelangweilte Journalistin mit den Zehen tippt! Aber allmählich spiegelt ihr Gesichtsausdruck wider, dass aus der fixen Idee, den widerspenstig seriösen Nachbarn zu verführen, Ernst wird. Als Femme fatale kann man sich diese vergnügte Sirene nach Devilles Film schwer vorstellen, aber auch das hat sie sicher später überzeugend hinbekommen.
In Emmers »Das Mädchen im Schaufenster« spielt sie eine ihre schönsten Huren-Rollen. Das Kino der 50er und frühen 60er zwängt die Sinnlichkeit seiner jungen weiblichen Stars in ein aufreizendes Korsett. Vladys Nacktheit ist züchtig, ein Blick auf ihren entblößten Rücken oder die Schultern genügt. Aber bestrickend ist in dieser Rolle vor allem ihre Freundlichkeit. Else ist ein guter Kamerad, auch in Sachen Erotik. Denn entgegenkommend ist sie nicht nur von Berufs wegen, sie meint es wirklich ernst mit dem blutjungen Bernard Fresson, den sie als ersten Freier zu sich nach hause mitnimmt. Man könnte die Zeichnung dieser Figur naiv und klischeehaft schelten. Aber ihr Blick verrät, dass sie viel gesehen hat vom Leben und jetzt bereit ist, die Konsequenzen daraus zu ziehen.
In Jancsós »Sirokkó« (auch dieser Regisseur ist ein Steckenpferd von Gary, siehe "Trans-Europ-Express" vom 17.6. 2015) agiert Vlady als ein braver Soldat,. Einerseits im Sinne ihrer Rolle, in der sie eher zielsicher als schießwütig erscheint. Und zugleich im Sinne der szenischen Verfügbarkeit, der Bereitschaft abzuwarten, wann die Kamera sich bewegt und sie endlich in den Blick nimmt. Die Plansequenzen sind ungeheuerlich in diesem Film, das Spiel mit der Instabilität der Verhältnisse und der Beiläufigkeit, mit der Entscheidendes inszeniert wird. Noch besser gefiel mir Vlady in »Zwei Frauen«. Da hat sie immer noch die Augen einer lebenstüchtigen Träumerin. Ihr Leuchten verblasst auch nicht angesichts der Mühen und Pflichten ihres Alltags. Ihr Blick ist noch im Ausweichen zugewandt und scheut die Konfrontation nicht. Es ist eine Rolle der Reife. Sie spielt eine Frau, die genau überlegt, ob sie einen Mann zum zweiten Mal küsst. Ausgerechnet in der einzige Szene, die sie je zusammen mit Wladimir Wyssozki auf der Leinwand spielte. Mészarós Film bestätigt noch etwas anderes, das mir in den Filmen davor auffiel: Sie ist eine Schauspielerin, die sich sichtlich wohl fühlt in der Gegenwart von anderen Darstellerinnen. Sie teilt gern die Szenen mit ihnen, sucht ihre Nähe. Das lässt sich nicht über jeden Filmstar sagen.
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