Atmosphärischer Einspruch

Der Film hatte mich rasch in der Tasche. Nach drei, vier Minuten schon schlug mein Puls schneller. Aber war das tatsächlich sein Verdienst oder das von Charles Aznavour?

Na, es ist bereits mitreißend genug, wie Chiara Mastroianni während des Vorspanns von »Zimmer 212« durch Montparnasse marschiert; selbst die kurze, recht überflüssige Zeitlupe kann ihre Unternehmungslust nicht bremsen. Und dann setzt im Off majestätisch Aznavours "Desormais" ein, wo er mit gründlichem 60erJahre-Pathos von all den Dingen singt, die von jetzt an nicht mehr möglich sind. Die Trennung ist vollzogen, das Danach ist ein Register der verlorenen Gemeinsamkeiten. Aznavours melodramatische Verve verbindet sich mit der des Films, die jedoch heiter und beschwingt ist. Sie treffen sich in der Wucht, die sie jeweils haben. Eine Euphorie der Befreiung ist zu spüren, Mastroianni trauert ihrem Liebhaber nicht nach, sondern hält längst schon wieder Ausschau auf den Straßen von Paris. Was davor und danach passiert, steht in meiner Kritik zum Film, der seit einer Woche in unseren Kinos läuft und hoffentlich noch nicht so schnell wieder aus ihnen verschwindet.

Der Soundtrack von Christoph Honorés Film verschiebt diese Chronologie, er setzt Akzente, die auf Späteres oder Vergangenes verweisen. Er ist ungemein eklektisch, Max Richter und Barry Manilow müssen widerspuchslos miteinander auskommen, zu Beginn ertönt brüsk eine knarrende Sprachaufnahme des Dichters Guillaume Apollinaire. Später erklingt ein zweites Chanson von Aznavour, "Hier encore", das mir aber weniger auffiel, weil es sich inhaltlich so gut einfügte: Gestern noch war ich 20 Jahre ….Es erhebt, anders als das erste Stück, keinen atmosphärischen Einspruch. Die Lieder, die der Regisseur ausgesucht hat, setzten jedoch nicht einfach Kontrapunkte, sie sind in sich widersprüchlich. Wie verhält es sich nun mit "Never never will I marry", der tückisch heiteren Selbstvergewisserung, das Liebesleben immer auf dem Sprung zu verbringen, bis zum Tod? Ich kannte es bis dahin nur von Nancy Wilson, aber Honoré hat die Version von Catarina Valente ausgewählt. Sie hat eine ebenso klare Stimme, was entscheidend ist bei einem Song, in dem sich die Wehmut maskiert. Hier zu Lande haben wir ihr Talent als Jazzsängerin erst spät entdeckt (wenn überhaupt), weshalb ich mich über Honorés Wahl sehr freue. Auch sie taucht ein zweites Mal auf, diesmal in Begleitung des Tanzorchesters von Werner Müller (allein der Name dürfte schon ein Kulturschock aus französischer Sicht sein), wieder eine Swing-Nummer, bei der Valentes Timing stimmt.

Ich glaube, die Tendenz, bereits existierende Stücke auf einem Soundtrack zu zitieren, brach sich erstmals mit der Nouvelle Vague Bahn. Mir fällt auch nach längerer Überlegung kein früheres Beispiel ein; es ergibt auch Sinn, denn die jungen Wilden um Truffaut und Co kultivierten ja die Lust an filmhistorischen Zitaten und Verweisen. Den Vorspann von Truffauts »Geraubte Küsse« jedenfalls schaue ich mir oft vor allem deshalb an, weil dazu »Que reste-t-il de nos amours?« von Charles Trenet läuft. Als französische Autorenfilmer tritt Honoré unwillkürlich das Erbe der Nouvelle Vague an. Ein schmissiges Chanson wie „Desormais“ ist eine leicht errungene Attraktion, aber erschlichen ist ihre Wirkung nicht. Der Einfallsreichtum, den er bei der Auswahl beweist, ist tugendhaft genug.

Die Musik spielt seit jeher eine zentrale Rolle in seinem Kino; er liebäugelt nablässig mit dem Musical. Früher hat er häufig mit dem Komponisten Alex Beaupain gearbeitet, nun sampelt er also. Im Abspann dankt er übrigens Valente. Die Liste der Danksagungen ist sowieso unerhört, eine tour d'horizon seiner filmischen Vorlieben, ausschweifend und manchmal punktgenau. Es lohnt sich unbedingt, den Abspann bis zum Ende anzuschauen. Er dankt Woody Allen und Ingmar Bergman (»Zimmer 212« ist eben die Autopsie einer Ehe), Bertrand Blier (etwas verblüffend, aber so preziös manieriert wie dieser Film war kein vorheriger von Honoré), Véra Chitilová (bestimmt für die muntere Emanzipation ihrer "Tausendschönchen"), Jacques Demy (allein schon wegen der Tapeten und überhaupt: als unerreichbarem Leitstern), Cary Grant & Irene Dunne (als dem Traumpaar der comedy of remarriage) und Alain Resnais (für die Schneeflocken und dessen filmische Nobilitierung des Boulevard); weitere Namen werde ich vergessen haben, es sind zu viele, um sie alle während des Sehens zu notieren.

Kino, das sich an Kinoerinnerungen inspiriert: davon versteht auch Wes Anderson eine Menge. Die Liste der Quellen für »The French Dispatch« ist sogar noch länger als Honorés Stammbaum (https://www.indiewire.com/gallery/french-dispatch-inspiration/gold-of-naples/) und nicht weniger erstaunlich - so viele düstere Films Noir (von Jacques Becker, Henri-Georges Clouzot, Alberto Cavalcanti, Julien Duvivier etc.) hat er studiert, um den Stil eines derart pastellbunten Films zu finden! Er läuft morgen an, da muss ich noch einmal überprüfen, wie es sich tatsächlich mit der kreativen Abkunft verhält.

Eine weitere Attraktion von Honorés Film wiederum ist sein Schauplatz, die Rue Delambre im 14. Arrondissement. Sie ist einerseits klug gewählt, andererseits verspielt im Studio nachgebaut; die Übergänge zwischen Realität und Zauber sind bemerkenswert. Die Straße ist mir eigentlich vertraut. Sie liegt unweit des Friedhofs von Montparnasse (wo Demy und Resnais begraben sind) und um die Ecke auf dem Boulevard Edgar Quinet wohnten einige Jahrzehnte lang Bekannte. In ihr liegt auch jene Fromagerie, die im Eintrag „Ein Jahrzehnt, das 15 Jahre dauerte“ vom 26.9. 2017 auftaucht. Inzwischen hat der Besitzer gewechselt, aber Geist und Aroma dieses Bollwerks der Würze haben sich nicht entscheidend gewandelt. Ein, zwei Mal war ich auch im Kino „Les sept Parnassiens“, das gegenüber der Wohnung im Film liegt. Womöglich wird mir früher auch aufgefallen sein, dass dort ein Café namens „Rosebud“ liegt (keine Erfindung des Films, sondern thematisch so passend wie "Hier encore"). Das Hotel hingegen habe ich nie beachtet. Es war für mich immer eine Straße, die auf dem Weg lag. Das war ein schlimmes Versäumnis, denn sie hat eine bewegte Geschichte (https://fr.wikipedia.org/wiki/Rue_Delambre). Beim nächsten Mal werde ich ihr mehr Aufmerksamkeit widmen. Manchmal bewahrt sich ein Drehort den Zauber, den er auf der Leinwand hat.

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