Spurensuche in der Zukunft
Jeff Nichols ist ein Regisseur, der alles ein wenig anders macht. Dabei ist er kein Bilderstürmer oder Rebell. Vielmehr knüpft er an große, lyrische Traditionen des amerikanischen Kinos an; die Filme von John Ford und Clint Eastwood etwa hat er genau studiert. Aber die Konventionen unterläuft er gern.
Schauen Sie sich nur einmal »Loving« von 2016 an, der heute Abend sehr spät im ZDF läuft (natürlich synchronisiert, was schade ist, weil dieser Autor und Regisseur ein so untrügliches Gespür für die Sprachmelodie des Südens hat). Die Liebesgeschichte zwischen der Schwarzen Mildred Jeter (Ruth Negga) und dem Weißen Richard Loving (Joel Edgerton) beginnt im Jahr 1958, als Virginia noch einer von sage und schreibe 24 Bundesstaaten der USA ist, in denen gemischtrassige Ehen gesetzlich verboten sind. Nichols bewegt sich auf eigentlich streng kodifiziertem erzählerischem Terrain. Aber die Liste der Fallen, in die sein Film zu tappen vermeidet, ist lang und grandios.
Er verhandelt eine wahre Geschichte von ermutigender Moral, die einen gesellschaftlichen Durchbruch markiert. Aber für den Triumphalismus, auf den Hollywoods Bürgerrechtsdramen nicht verzichten mögen, hat er keinen Platz. Es gebricht ihm an selbstgerechter Empörung. Er hält kein erhebendes Plädoyer, sondern zieht es vor, seine Charaktere auf Augenhöhe zu betrachten. Wo er sich dramatisch zuspitzen müsste, bleibt er verhalten; wo die Konvention nach einem charismatischen Bösewicht verlangt, beschreibt er ein Klima des alltäglichen Rassismus'. Seine Helden werden nicht von waffenstarrenden Rednecks gejagt, kein Stein wird nachts wütend in ihr Fenster geworfen. Und obwohl der Prozess, in den die Handlung mündet, die Gesetzgebung der USA nachhaltig veränderte, kommen keine Gerichtsszenen vor.
»Loving« ist, wie alle Filme Nichols', ein Meisterwerk filmischer Verwurzelung - obwohl die Hauptdarsteller aus Äthiopien, Australien und Neuseeland stammen. Er zeigt Menschen, die den Ort lieben, an den sie gehören. Darin erkennt Nichols eine Würde, die selbstverständlich ist, aber durch die Verhältnisse kompliziert wird. Die Montage beharrt darauf, dass diese Zwei zusammengehören. Die Lovings machen keine großen Worte; die Stille dieser Familie ist heiter und reich. Die große Historie, glauben sie, findet anderswo statt. Nie käme es ihnen in den Sinn, dass sie zu deren Protagonisten werden könnten. Der Film muss sich über ihre Bescheidenheit nicht erheben. Die Bilder ihres Glück und ihrer Demütigungen bersten vor Ruhe. Nichols filmt den Kampf des Paares mit einer demokratischen Nüchternheit, die Raum schafft für Einfühlung. Das ist keine hehre Verweigerungskunst, sondern erzählerische Souveränität.
Sie beweist der Filmemacher schon 2007 in seinem Regiedebüt »Shotgun Stories«. Wenn ich mich recht erinnere, wird im Verlauf dieser erbitterten Familienfehde kein einiges Mal ein Gewehr abgefeuert. Gewiss, es kommen Messer zum Einsatz. Aber Nichols zeigt immer nur den Auftakt der Gewalt und bricht die Actionszenen brüsk mit einem Schnitt oder einer Schwarzblende ab, um deren deren Konsequenz zu schildern. Dieses Zögern verstört erst, aber es passt zu einem Film, der davon handelt, wie man das Hassen verlernen kann. Auch in »Mud« beweist Nichols fünf Jahre später seine Meisterschaft der Auslassung. Es ist ein Abenteuerfilm für Jugendliche, wie die Mississippi-Erzählungen von Mark Twain oder »Moonfleet« (Das Schloss im Schatten) von Fritz Lang; eine vielstimmige Ballade, in der jede Figur aus mehreren Blickwinkeln betrachtet wird. Eigentlich müssten alle Anstrengungen des jungen Ellis (Tye Sheridan) darauf hinauslaufen, dass der geflohene Sträfling Mud (Matthew McConaughey) wieder mit Juniper (Reese Witherspoon) vereinigt wird. Der 14jährige, dessen Eltern sich scheiden lassen, will der Liebe um jeden Preis helfen. Aber dann kommt es schließlich nur zu einem kurzen, stummen Gruß. Nichols kann auf die unausweichlichen Szenen verzichten, sein Stil ist schon lyrisch genug, um ein Zuschauerherz zu erfüllen.
Vor ein paar Tagen kam er mir in den Sinn, weil ich an Verandaszenen in US-Filmen denken musste. Das liegt nicht unbedingt nahe, aber kann passieren im Sommer in einer deutschen Großstadt. Ich hatte die großartigen Verandamomente vor Augen bei Ford und Robert Mulligan, wo sie die Schwelle zum Erwachsensein markieren. »Shotgun Stories« endet mit einer der schönsten überhaupt, einem Moment der Katharsis, der Gelöstheit, der ebenfalls vom Heranreifen erzählt. Ich fragte mich, was Nichols eigentlich gerade macht? Vier Jahre sind vergangen, seit er mit »Loving« und »Midnight Special« gleich zu einem Doppelschlag ausholte. Das ist vielleicht noch zu früh für das bange "Whatever happenend to...", aber eine viel zu lange Pause für einen so energischen Filmemacher. Der französischen Monographie »Le Cinéma de Jeff Nichols« von Jérome d' Estais entnahm ich, dass er 2017 an einem Remake von »Alien Nation« schrieb, der Science-Fiction-Buddy-Komödie aus den 1990er Jahren, in der James Caan einen Cop und Mandy Patinkin seinen außerirdischen Partner spielt. Ich habe das Original nicht in besonders guter Erinnerung, fand das auch keinen guten Stoff für einen so bodenständigen Regisseur wie Nichols. Andererseits hat mich bisher keiner seiner Filme enttäuscht und die Idee der Wiederverfilmung eines Kassenflops verrät Chuzpe. Wie es scheint, ist das Projekt aber der Fusion von Fox und Disney zum Opfer gefallen.
Durch einen Zufall fand ich heraus, dass Jérome d' Estais in Berlin lebt und sogar Mitglied unseres Kritikerverbandes ist. Ich hätte auch meinen Kollegen Tim Lindemann fragen können, der ein großer Nichols-Spezialist ist, aber da ich das französische Buch sehr mochte, nahm ich Kontakt mit seinem Verfasser auf. Er war gerade aus Paris zurückgekehrt und hatte gute Nachrichten für mich: Nichols arbeite an einem Film über die kubanische Revolution, in dem Adam Driver (der einen schillernden Auftritt in »Midnight Special« hat) die Hauptrolle spielen soll. Diesmal kein Studiofilm, sondern ein unabhängiges Projekt, das hoffentlich im nächsten Jahr realisiert wird. Bestimmt wird der Regisseur auch eine Rolle für seinen Stammschauspieler Michael Shannon finden. (Erstaunlich, dass ich ihn bisher nicht erwähnt habe: ein Text über Nichols, der ohne ihn auskommen soll? Eine ganz und gar unsouveräne Auslassung!).
Das Projekt basiert auf einem Artikel aus dem "New Yorker" von David Grann, der dem Kino schon ein paar wunderbare Steilvorlagen geliefert hat: »Ein Gauner & Gentleman« mit Robert Redford und, »Die versunkene Stadt Z« von James Gray; derzeit bereitet Scorsese eine Adaption von »Killers of the Flower Moon« vor. Als »The Yankee Commandante« 2012 im "New Yorker" erschien, sicherten sich "Focus Features" die Rechte für George Clooney. Nun wagt sich Nichols an die Biographie des Amerikaners William Morgan, der sich der Revolution gegen Battista als Guerillakämpfer anschloss, dann aber gegen den kommunistischen Kurs Castros wandte und als vermeintlicher Doppelagent hingerichtet wurde. Ich war schon hellhörig geworden, als Jérome d' Estais von einem historischen Film sprach. Aber dieser Stoff wirkt spektakulär maßgeschneidert für Nichols: Eine Figur, die sich furchtlos gegen ihre Zeit stellt, muss seelenverwandt mit den Lovings sein.
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