Der Lärm nach dem Sturm
Der Moment, als Adèle Haenel zornig die diesjährige César-Verleihung verließ, könnte zur Ikone einer Zeitenwende werden. Das war eine machtvolle Geste der Schauspielerin, als sie die »Schande« nicht hinnehmen wollte, dass Roman Polanski mit dem Regiepreis für »Intrige« ausgezeichnet wurde. Noémie Merlant, ihre Leinwandpartnerin in »Porträt einer jungen Frau in Flammen«, ihre Regisseurin Céline Sciamma und andere Gäste der Gala schlossen sich ihr an. Sie schleuderten der französischen Filmakademie, eigentlich der ganzen Branche, einen Fehdehandschuh vor die Füße.
Unverkennbar geht seither, nein, eigentlich schon seit Monaten, ein Riss durch die Filmszene im Hexagon. Ich habe die Preisverleihung, das konnte gar nicht anders sein, im Zwiespalt verfolgt. Meine erste, kleinmütige Reaktion war: Warum zeichnet man Polanski, ohne Not, zum fünften Mal in dieser Kategorie aus? Fast alle seiner Konkurrenten hätten den Regie-César mit gleichem Recht bekommen können, Arnaud Desplechin, Ladj Ly, François Ozon und Sciamma. Natürlich geniert es mich, dass die Wut und Schmähung nun einen sehr guten Film trifft. Er wurde, ohne eigenes Zutun, in einen Kontext gerückt, der freilich überaus wichtig ist. Optimistisch gesprochen: Es könnte sein, dass der Tumult eine Katharsis darstellt, die ebenso richtungsweisend ist wie die Verleihung des César für den Besten Film an »Die Wütenden«.
Die Filmakademie muss nun die Scherben aufsammeln. Es ist zu wünschen, dass sie sie nicht wieder zusammensetzt. Am vergangenen Mittwoch, zwei Tage vor der Verleihung, wurde die Produzentin Marguerite Menegoz zu deren Interimspräsidentin ernannt. Sie wird immensen Elan brauchen für dieses Mandat, das vorerst bis in den Sommer dauern soll. Er ist ihr zuzutrauen. Die Produzentin von Éric Rohmer, Michael Haneke und gerade erst Christian Petzold ist von Berufs wegen geübt darin, Disziplin einzufordern und Zusammenhalt zu schaffen. Ich habe sie, zusammen mit Lars-Olav Beier, vor gut 30 Jahren zum ersten Mal interviewt und sie später häufig in ihrem Amt als Präsidentin von Unifrance erlebt. Sie ist eine resolute Diplomatin, die zwar die Macht schätzt, aber mit ihr umgehen kann. Ich denke, sie ist eine hervorragende Wahl, um die zerrüttete Akademie (siehe »Fortan nur noch frites?« im letzten Monat) auf neuen Kurs zu bringen. Am 20 April soll diese sich eine neue Verfassung geben, die demokratischer, transparenter und paritätischer werden muss. Ein Matriarchat wäre ein gutes Gegengift zum toxischen Klima, das während der Ära Alain Terzian herrschte.
Noch eine weitere Revolte fand in der letzten Woche in Paris statt: Die 15köpfige Redaktion der »Cahiers du cinéma« gab am Donnerstag ihre Kündigung bekannt. Das Tischtuch zwischen ihr und den neuen Eigentümern ist endgültig zerrissen. Am 3. Februar hatte eine Investorengruppe den Titel von ihrem bisherigen Besitzer Richard Schlagman erworben. Der britische Verleger (»Phaidon Press«) bot die »Cahier« bereits seit einem Jahr zum Verkauf an. Die legendäre Zeitschrift war, trotz ihrer beachtlichen Auflage von 12000 Exemplaren, ein zu großes Verlustgeschäft. Was die neuen Besitzer, ein Konsortium von 20 einflussreichen Playern im Mediengeschäft, an einem kleinen Verlag reizt, der im Handelsregister mit einem Kapital von 18113,82 € eingetragen ist, blieb nicht lange ein Rätsel.
Es war nicht der Mythos der »Cahiers«, denn den haben sie gründlich missverstanden. Sie wollen der Zeitschrift eine frische Dynamik geben, sie soll »chic« und »freundlicher« werden. Es braucht einige Phantasie, um diese Adjektive mit der Zeitschrift in Verbindung zu bringen. Sie war immer esoterisch und streitbar. Die Investoren wünschen sich zudem eine engere Partnerschaft mit Institutionen, Filmschulen und insbesondere dem Festival von Cannes, dem die Kritiker der Zeitschrift nie einen schlechten Jahrgang durchgehen ließen. Im Kern fordern sie, die »Cahiers« sollten ein positiveres Bild des französischen Kinos zeichnen.
Für eine Redaktion, die dessen Trägheiten und Fehlentwicklungen stets kritisch analysierte (eine Tradition seit Truffaut & Co) und im Gegenzug dessen Umbrüche und Erneuerungen enthusiastisch feierte (unlängst erst »Die Wütenden« und Nadav Lapids »Synonymes«), ist es selbstredend unerträglich, das heimische Kino per ordre de mufti schönzureden. Einwände erhebt sie überdies gegen die Zusammensetzung der Gruppe, der acht Filmproduzenten angehören sowie der Chef einer Versicherung, die 40 % aller Dreharbeiten in Frankreich abdeckt. Ein weiterer Dorn im Auge ist den unabhängigen Redakteuren die Medienmacht, die sich in diesem Konsortium konzentriert. Der Besitzer des »Le Monde«-Imperiums gehört dazu, ebenso wie der Gründer des Nachrichtenkanals BFM, dessen verzerrende Berichterstattung über die Gelbwesten der Chefredakteur der »Cahiers«, Stéphane Delorme, in seinen Editorials wiederholt kritisierte.
Auch als treuem Leser der Konkurrenz »Positif« (sowie stillem Mitarbeiter – das Impressum führt mich als deren Deutschlandkorrespondent, was bisher aber kaum mit Aufträgen, geschweige denn Honoraren einherging) kann ich diese Entwicklung nur verheerend finden. Die »Cahiers« sind für die Filmkultur weltweit unverzichtbar. Unter Delorme hat die Zeitschrift in den letzten Jahren ein kämpferisches Profil gewonnen. Das mag ein Abglanz der großen Zeit sein, die sie im letzten Jahrhundert erlebte, aber welch prächtiger! Sie stellte mit jeder Ausgabe ihre cinéphile und gesellschaftspolitische Erregbarkeit unter Beweis. Ja, das brachte sie sinnvoll zusammen. Sie blieb gewissen Traditionen verpflichtet: Godards »Bildbuch« auf dessen Veröffentlichung in Frankreich die Redakteure lange und ungeduldig warten mussten, widmeten sie eine umfangreiche Titelgeschichte; jeder gute Eastwood-Film wird als Ereignis gefeiert, »The Mule« sogar als Argument gegen den Neoliberalismus ins Feld geführt.
Die thematischen Schwerpunkte, die sie im letzten Jahr setzte, sind gewichtig (ein 70seitiges Dossier über Regisseurinnen), dringlich (eine Bestandsaufnahme des brasilianischen Kinos im Gegenwind Bolsonaros) und oft originell (die Aprilnummer 2019 begrüßt den Frühling mit einem Dossier über Pflanzen im Kino). Die Filmgeschichte geriet zuweilen ins Hintertreffen (immerhin, Mario Bava und die Studios de la Victorine nahmen sie ausführlicher in den Blick), dafür schauten die »Cahiers« wachsam auf die Aktualität. Delorme war stets zu Stelle, wenn es galt, die Irrwege des Macronismus zu geißeln, etwa die Ernennung eines großzügigen Wahlkampfspenders zum Chef des CNC: Ein Filmproduzent, mithin ein Spezialist privater Finanzierung, soll nun über die Vergabe von Fördergeldern entschieden? Ein solch schreiender Interessenkonflikt dufte nicht unkommentiert bleiben. Ich hätte gern gelesen, was er zur Filmakademie zu sagen hat. Ebenso bemerkenswert waren die Anstrengungen des Blattes, während der Gelbwesten-Proteste eine mediale Gegenöffentlichkeit zu schaffen.
Es schmerzt mich, all dies in der Vergangenheitsform zu schreiben. Sie sollte Nachrufen vorbehalten sein. Wie es weitergehen wird, kann, steht in den Sternen. Welcher integre Filmjournalist wäre unter diesen Umständen bereit, die Stelle seiner Kollegen einzunehmen? Der Zeitpunkt der Demission legt nahe, dass die Redaktion das Märzheft noch fertiggestellt hat. Bis heute (4.3.) ist es auf der Website nicht angekündigt. Die ist noch ganz im Februarmodus, auf ihr ist nur das Inhaltsverzeichnis der letzten Nummer zu sehen. Das Cover ziert ein Porträt von Martin Scorsese, der den »Cahiers« ein ellenlanges Interview gegeben hat. Sein Lächeln ist milde. Aber es wirkt nicht so, als würde es zuversichtlich in die Zukunft schauen.
Kommentare
clap de fin
Auf ein Honorar von Positif können Sie lange warten, das Magazin bezahlt ihre Filmkritiker bekanntlich nicht. Die Veröffentlichung der „März“(?)-Ausgabe der Cahiers wurde angeblich auf den 30.03. verschoben.
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