Auszeit

Gestern sah ich mal wieder einen Kondensstreifen am Himmel. Ich halte Ausschau nach ihnen, seit mein Freund Heiko mich vor einigen Tagen auf ihre Abwesenheit hinwies: Zum ersten Mal seit sechs Jahrzehnten ist der blaue Himmel weitgehend unbefleckt. Er hatte seine Mutter gefragt, ob sie sich an eine Zeit erinnere, in der es sie noch nicht gegeben hätte. Auch sie konnte es nicht. 

Heute habe ich noch keinen entdeckt. Die Luft wird ja ohnehin besser derzeit. Während ich es als Berliner schon erholsam finde, nicht mehr das unerbittliche Klappern von Rollkoffern zu hören (obwohl: gerade eben habe ich einen in meinem Hof gehört: zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit), ist man auf dem Lande, wo Heiko wohnt, vielleicht näher am Elementaren. Indes denken wir nun alle verstärkt in kausalen Zusammenhängen.

Als er die Kondensstreifen erwähnte, musste ich unweigerlich an den Anfang von »Einsam sind die Tapferen« von 1962 denken. Heiko findet zwar, die großartigsten Kondensstreifen seien in Anthony Manns „Stategic Air Command“ (In geheimer Kommandosache, 1955) zu sehen, aber er verstand meine Assoziation sofort. Der Auftakt von »Lonely are the Brave« ist brillant. Die Kamera schwenkt über die morgendliche Wüste hinüber zu Kirk Douglas, der an seinem Lagerfeuer liegt und versonnen eine Zigarette raucht. In diesem Moment könnte es noch ein Western sein, der im 19. Jahrhundert spielt, und Douglas wäre kein Cowboy, dessen Zeit vorüber ist. Jedoch hört man ein dräuendes Geräusch aus dem Off, das man alsbald als Flugzeuglärm identifiziert. Douglas richtet sich auf, er blickt empor. Gleich drei Kondensstreifen sieht er am Himmel, die unterschiedlich breit sind: Keine Linienflüge, sondern wohl ein kleines Geschwader der Luftwaffe. Es liegt noch keine bange Ahnung in Douglas' Blick, eher ein amerikanisch-offenes Staunen über den technischen Fortschritt. Seine Zukunft wird das nicht sein .An Aufbruch denkt er dennoch. "Time we took off, too" sagt er zu seinem Pferd, das auf den Namen Whiskey hört, aber ebenso widerspenstig ist wie er.

Diese Exposition eines Kulturschocks trägt ohne Zweifel die Handschrift des Drehbuchautors Dalton Trumbo. Später griff er bei „Die Steppenreiter“ (1971) auf die Idee zurück. Wiederum dringt die Moderne in eine traditionelle Lebensweise ein, deren Tage gezählt sind. Omar Sharif und Jack Palance gehören einem stolzen Stamm von Nomaden an, der seit Generationen in der rauen, unangetasteten Bergwelt Afghanistans lebt. Palance, der eingangs Reiter trainiert, wird abgelenkt vom Lärm eines einstrahligen Flugzeugs. Ein Wunder der filmischen Kurzschrift: In wenigen Bildern ist eine Gegenwart etabliert, die voller Ungleichzeitigkeit steckt.  

 

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