Ein unheitliches Bild
Meinen Wahlzettel in die Urne zu stecken, war nicht ganz leicht. Er passte kaum noch hinein. Es klappte erst beim zweiten Versuch. Der Papierstau ließ sich einerseits dadurch erklären, dass der Zettel diesmal ziemlich dick ausfiel: Die Liste der Parteien, die sich zur Wahl stellten, war so lang wie nie zuvor. Andererseits konnten Wahlhelfer voller Genugtuung berichten, dass die Beteiligung sehr hoch gewesen war. Ihr Pappkarton war prall gefüllt.
Ich kam allerdings, der Bahn sei es geklagt, auch erst eine Viertelstunde vor Schließung des Wahllokals. Mein Kreuz machen wollte ich unbedingt. Briefwahl kam für mich nicht infrage, die ist kein wirklicher Ersatz für das Hochgefühl, in der Kabine zu sitzen und dort als Souverän zu entscheiden. Am Nachmittag war ich mit jeder Zugverspätung und jedem verpassten Anschluss immer nervöser geworden. Der Suspense wurde, um mit Hitchcock zu sprechen, unerträglich. Ich hätte es als Schande empfunden, nicht rechtzeitig im Wahllokal zu erscheinen. Auf den letzten Metern kam mir noch ein Kollege entgegen, der mich lächelnd rügte, ich sei ja noch später dran als er. Unverrichteter Dinge ließ ich ihn auf dem Bürgersteig stehen und erklärte im Vorbeihasten nur, die Bundesbahn sei Schuld. Ja, ich benutzte tatsächlich noch ihren alten Namen.
Meine Sorge hatte nichts damit zu tun, dass Macron diese Europawahl im Vorfeld zu einer schicksalhaften erklärt hatte. Das war sie hoffentlich nur für ihn. Der Wahlaufforderung, die eine Reihe von Filmemachern noch in Cannes ausgesprochen hatte, bedurfte es auch nicht; ganz zu schweigen von der einiger schief singender deutscher Comedians. Jeder Urnengang ist wichtig. So war die vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung die erste gute Nachricht dieses Tages. Selbstredend kann man sie relativieren. Rund 61 Prozent in Deutschland sind nicht unbedingt viel; im europäischen Schnitt lag sie wohl nur bei 50. Ist es wirklich ein Fortschritt, wenn sie in der Slowakei von 13 auf 20 Prozent gestiegen ist? Wahrscheinlich schon, aber vielleicht doch eher der Anfang eines noch weiten Weges.
Das Wahlergebnis gibt ein ziemlich uneinheitliches Bild ab. Es war damit zu rechnen, dass einige rechtsnationale Parteien, nicht nur in Osteuropa, triumphierten. In dem großartigen Filmland Rumänien war das zum Glück nicht der Fall. Auch bei uns erreichten die Demokratieverächter nicht ganz den Stimmenzuwachs, den sie erwarteten. Der Erfolg Marine Le Pens erschüttert. Warum erscheint so vielen Franzosen der europäische Zusammenhalt nicht als gangbarer Mittelweg zwischen Globalisierungsängsten und Nationalstolz? Immerhin waren es französische Regisseure, aus deren Mund ich die ersten echten Bekenntnisse zu Europa hörte. Ein Jahr vor dem Mauerfall, während eines Interviews zu „Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss“, verkündete Étienne Chatiliez, die Zukunft heiße Europa. Und Cédric Klapisch legte ungeheuren Wert darauf, in „L'auberge espagnol – Ein Jahr in Barcelona“ ein positives Bild von Europa zu entwerfen. Endlich einmal, fügte er hinzu, denn bisher sei es vor allem ein Synonym für eine bevormundende Bürokratie gewesen. In seinem Franchise wächst der Kontinent tatsächlich ein wenig mehr zusammen. So erfreulich es ist, dass der zweite Teil weitgehend in Russland spielt – dass er im dritten nach New York ausweicht, muss man vielleicht als schlechtes Omen nehmen.
Als ich am Sonntag schließlich meinen letzten Anschluss erreichte, hatte sich sich meine Nervosität zwar nicht gelegt. Jedoch beschlich mich eine leichte Zuversicht, dass ich mich am Ende doch noch als guter Demokrat erweisen könne. Also holte ich die Lektüre der letzten Cannes-Berichterstattungen nach, zu der ich noch nicht gekommen war. Offenkundig stellten viele Filme genau die Fragen, die sich die 400 Millionen Wahlberechtigten in Europa stellten und auf die sie von der Politik keine befriedigende Antwort erhielten. Zum Schluss, kurz vor Berlin, ich das Manifest, das Céline Sciamma, Miguel Gomes, Pawel Pawlikowski, den Dardenne-Brüdern, Susanne Bier, Costa-Gavras, Wim Wenders und andere an der Croisette unterzeichnet hatten. Der Anfangssatz ärgerte mich. Für eine Liebeserklärung klingt er viel zu defensiv. Welcher Liebende sehnt sich schon nach Perfektion? In der Zaghaftigkeit des Auftakts liegt aber wohl eine tiefe europäische Wahrheit. Selbstbewusstsein besitzt man nicht von Anfang an, es entwickelt sich. Und es ist redlicher, nicht davor zu strotzten.
Aber lesen sie selbst:
It is true; Europe is hardly perfect. We sometimes blame it, and rightly so, for lacking soul and emotion, for speaking a language that few of us understand. We blame it for not doing enough to face the ecological, social and political crises that are threatening to unravel it today, for not doing enough to face the refugee tragedy. Yet, despite its frailties and its failings, we also perceive humanity and beauty at its core. And we strive to portray it through delicate imagery, in a more accessible language for all the people that make it whole. Let us remember that Europe united for peace. What started as a union of six countries has now grown to include 28 countries in a unique alliance that is inspiring for all of humanity. This Union was built on the principles of open borders, free circulation, fraternity and solidarity, values that are today under attack on all fronts, including from within Europe itself. But this Union is also one of culture, a truly ambitious purpose for a continent whose innovation and creation have always shone bright. And a free and democratic Europe is a Europe of creativity, freedom of thought and expression. As we are facing extremism and backwards tendencies, once again spreading like a plague, it is our duty to stand up for these values. This incredibly fragile balance must be strengthened and improved, when facing those who want to destroy it by dividing, giving up and looking for a way out. To the question: how do we build a desirable, unifying, open Europe offering a space for freedom and peace? We must reply by standing firmly for what we believe in, in this battle of ideas. From 23-26 May, for the European elections, we will therefore vote. It is our common future that is at stake, if not our future itself.
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