Ein Assoziationskünstler
Vor einigen Jahren, als ich noch ein regelmäßigerer Leser der "Süddeutschen Zeitung" war, konnte man beim Aufschlagen der Filmseite eigentlich immer sicher sein zu erfahren, was George Clooney, Steven Soderbergh und Quentin Tarantino gerade ausheckten. Jede Ankündigung, jedes Gerücht über deren neue Projekte riss die Redaktion zu fiebrigen Spekulationen hin.
Man konnte den Eindruck gewinnen, der Rest des Weltkinos verschwinde in diesem Bermudadreieck der Verheißungen (was den Komparativ im ersten Nebensatz erklärt). Mit dieser journalistischen Monokultur ist es zwar vorbei, aber natürlich ziehen die Pläne der Drei nach wie vor große Neugier auf sich. Auch meine Phantasie regen sie an, wenngleich mit nachlassender Dringlichkeit. Nennen wir es eine retrospektive Vorfreude, denn im Januar bin ich immer gespannt auf die Liste, auf der Soderbergh festhält, was er im vergangenen Jahr gesehen, gelesen und gehört hat. (https://www.slashfilm.com/everything-steven-soderbergh-watched-in-2018/) Natürlich könnte auch ihr ein prophetisches Potenzial innewohnen: Schaut er sich diesen oder jenen Film im Hinblick auf ein zukünftiges Vorhaben an, vertieft er seine Kenntnis eines Genres, weil er sich demnächst daran versuchen will? Im Dezember häufen sich mögliche Oscar-Kandidaten (»Widows«, »Roma«), aber werden wir je erfahren, wem er am Ende seine Stimme gibt?
Das größte Vergnügen bereitet es mir, wenn ich eine gewisse Absichtslosigkeit hinter seinem übrigens ja unkommentierten Pensum erahne. Einige Titel schaut er sich bestimmt zum wiederholten Mal an, um des blanken Vergnügens willen. In manchen Wochen scheint mir, als wolle er historische Lücken füllen. Im letzten Jahr legte er einen sachten Schwerpunkt auf das britische Nachkriegskino und hat sich Filme von Bryan Forbes, Joseph Losey und Alexander Mackendrick angesehen. Gelegentlich setzt er diese Studien einige Wochen oder Monate später fort. So muss 2018 für ihn ein ausgesprochenes Paul-Newman-Jahr gewesen sein, was so weit geht, dass er auch vor »Flammendes Inferno« nicht zurückschreckt. Oft verzweigt sich sein Interesse – nachdem er Newman in »Der Mackintosh-Mann« gesehen hat, schaut er sich einen zweiten John-Huston-Film an, »Der Brief aus dem Kreml«, und da er gerade auf dem Terrain des Spionagefilms gelandet ist, folgt »Die 3 Tage des Condor«, was wiederum zu einer fortgesetzten Beschäftigung mit John Le Carré führt. Bisweilen reagiert er auf einen aktuellen Anlass, nach dem Tod von Neil Simon tritt er in eine kurze Phase des Angedenkens ein und schaut mehrere, allerdings eher mittelprächtige Verfilmungen an. Für Ingmar Bergman interessiert er sich erst einige Wochen, nachdem dessen 100. Geburtstag gefeiert wurde.
So ergeben sich faszinierende Muster. Wundervoll, wie assoziierend sein Denken funktioniert! Hat er einmal einen Big-Caper-Film gesehen, folgt rasch ein zweiter; ein Film-Noir-Klassiker gebiert den nächsten, wobei er mit »Narrow Margin« und »Naked City« in der Mitte des Alphabets steckenbleibt. Nach »The Scarlett Empress« hat er offenbar Lust, Dietrich auf der Bühne zu sehen ("Marlene Dietrich in Denmark"), bevor er mit »The Devil is a Woman« wieder in Sternberg-Gefilde zurückkehrt. Manchmal scheint seine Schaulust der "Das könnte Ihnen auch gefallen"- Logik zu folgen. Aber ich bezweifle, dass er sich den nächsten Schritt von Algorithmen vorschreiben lässt.
Ob er ein digitaler oder haptischer Leser ist, weiß ich nicht. Jedoch scheint er die Kulturtechnik des speed reading zu beherrschen (wie Billy Wilder, von dem er sich »Das Apartment«, »Frau ohne Gewissen« ansieht und, ausgerechnet am Heiligabend, »Stalag 17« ). Er schafft manchen dicken Wälzer an einem Tag, der überdies mit einer Serienfolge oder einem Film angefüllt ist. Sein Buchgeschmack wirkt eher erratisch als opportunistisch, obwohl auch er an Knausgard nicht vorbeikommt. Mit Leila Slimani setzt er einen interessanten Akzent, und auf »The Italian Teacher« von Tom Rachman bin auch ich gespannt. Filmbücher liest er selten. Ob er das Stück von Yasmina Reza gelesen oder auf der Bühne gesehen hat, geht aus der Liste nicht hervor. Dass Soderbergh ein so aufmerksamer Theatergänger wie Alain Resnais (von dem er nicht nur »Marienbad« sieht, sondern auch den entlegenen »Ich liebe dich, ich liebe dich«) sein sollte, kann ich mir nicht recht vorstellen.
Ohnehin wirft die Liste spannende Fragen auf. Warum schaut er sich »Der Schakal« zweimal an, zuerst mitten im Jahr und dann noch einmal kurz vor Silvester? Natürlich wundert es nicht, dass er sich »Ocean's 8« anschaut, daran hat er als Produzent und Franchise-Begründer ja schon ein professionelles Interesse. Der Titel taucht drei Mal auf - hat er ihn jeweils komplett gesehen, in verschiedenen Schnittfassungen oder aber in drei Teilen? Eine rätselhafte Lücke stellt »The Other Side of the Wind« dar. Die Dokumentation über Welles' Dreharbeiten hingegen, »They'll love me when I'm dead«, taucht auf. Schwer vorstellbar, dass der gründliche Listenschreiber Soderbergh vergessen hat, ihn einzutragen. Undenkbar jedoch, dass dieser Meister der Schaulust sich die Chance entgehen ließe, einen Geisterfilm zu sehen, der wirklich existiert.
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