Das Jahr der Wunder
Bis vor ein paar Tagen hatte ich keine Ahnung, was für ein gewaltiger, ja pathologischer Lügner Ingmar Bergman war. Gewiss, mir war klar, dass man nicht jedes Wort seiner Autobiographie auf die Goldwaage legen muss. Aber seine Filme scheinen mir schonungslos aufrichtig. Das hat sich nicht geändert, seit ich ganz neue Erkenntnisse über ihn gewonnen habe.
Die verdanke ich Jane Magnussons Dokumentarfilm »Bergman-A year in a life«, mit der am letzten Donnerstag das Festival "DOKUARTS" wuchtig eröffnet wurde. Es läuft noch bis zum 21. Oktober im Zeughauskino: eine schöne Veranstaltung, die bereits zum elften Mal stattfindet und auf der Andreas Lewin Dokumentationen über Künstler unterschiedlicher Disziplinen zeigt, darunter in diesem Jahr erhellende Arbeiten über die Regisseure Hal Ashby und Raoul Ruiz.
Magnussons Bergman-Film konzentriert sich auf das Jahr 1957 und zieht von ihm Rückschlüsse auf das Davor und Danach. Es war ein echtes Annus mirabilis in Bergmans Karriere und Biographie, der Moment seiner endgültigen Kanonisierung mit »Das siebente Siegel« und »Wilde Erdbeeren«, eine Zeit unfassbarer Schaffenskraft (noch ein dritter Film, mehrere epochale Theaterinszenierungen, ein Fernseh- und Hörspiel etc.) und wahrscheinlich der Höhepunkt seiner seriellen Polygamie (Liaisons u.a. mit Bibi und Harriet Andersson; seine dritte oder vierte Ehe, man hält schwer Schritt, ging in die Brüche, während schon die nächsten zwei Gattinnen am Horizont auftauchen). Nein, Drogen nahm er in der Zeit nicht. Vielmehr hielt der magenkranke Regisseur eine Diät aus schwedischem Joghurt und Keksen der Marke "Mari". Ich hoffe, die gibt es noch, andernfalls zolle ich ihr postumen Dank.
Als untreuer Ehemann und Geliebter hatte er zweifellos reichlich Gelegenheit, zu lügen. Erstaunlicher fand ich, wie nachdrücklich er über seine Kindheit schwindelte. Magnusson hat ein Interview mit Ingmars Bruder Dag aufgetrieben, dessen Ausstrahlung der Regisseur zeitlebens verhinderte, und das ein anderes Bild der uns bekannten Kindheitstraumata zeichnet. Nicht Ingmar, sondern Dag wurde vom streng lutheranischen Vater geschlagen: womöglich ist der Regisseur also nicht Alexander, sondern Fanny, die im Film zusieht, wie dieser mit dem Stock gezüchtigt wird. Außerdem war er wohl ein Musterschüler, anders als sein vermeintliches Alter ego in dem Drehbuch zu »Die Hörige«. Das alles muss nicht stimmen. Jedoch wird auch Ingmar selbst zitiert mit dem Geständnis, er habe seine Erziehung nur dank Lügen und Phantasien überstanden. Magnusson resümiert dies ohne Entlarvungsfuror; sie geht den Dingen einfach auf den Grund.
Er ist, gelinde gesagt, eine schwierige Figur für die #MeToo-Ära. Im Film wird allerdings wenig gelinde gesagt. Er zog erotische Vorteile aus künstlerischen Abhängigkeitsverhältnissen und gebärdete sich am Theater in den letzten Jahren als unerträglicher Tyrann, was eindrücklich im Dialog der Erinnerung der Leidtragenden wachgerufen wird. Das ist die eine Seite, ohne die es die andere seiner glorreichen Kreativität nicht gibt. Aber ein Forscher bleibt er im Reich der Frauen. Und eine weitere frische Facette weiß der Film zu entdecken: Er hatte eine wundervolle Art, heißt es einmal, seine Schauspieler zu berühren. Diese unbändige Zärtlichkeit teilt sich augenblicklich mit, sie ist ein berückendes Indiz des sinnlichen Verhältnisses, das er zu seiner Kunst hatte. Magnusson hat kluge Zeitzeugen vor die Kamera geholt, darunter Gunnel Lindblom, den nachdenklichen Michael Degen und Bergmans Szenenbildnerin, die sagt: "Angst ist ein Teil der europäischen Art, Filme zu machen."
Nach zwei enttäuschenden Dokumentationen, die ich in diesem Jahr über den Regisseur gesehen habe, hatte ich fast schon die Hoffnung aufgeben, dass sein Jubiläumsjahr noch etwas Ertragreiches hervorbringen könnte. (Einmal abgesehen von "Menschenjagd, über den ich vor einer Woche schrieb. »Trespassing Bergman«, bei dem Magnusson Co-Regie führte, beruht eigentlich auf einer schönen Idee: Er zeigt auter Regisseure, die zu seinem Haus auf Faro pilgern und dort verblüffende Entdeckungen machen. Auf die Dauer ist das aber so anstrengend wie die Besichtigung einer Trophäensammlung. (Wie Lars von Trier freilich mit der narzisstischen Kränkung ringt, von Bergman ignoriert worden zu sein und sich den alten Herrn als unermüdlichen Onanisten vorstellt, ist unbezahlbar.) Margarethe von Trottas »Auf der Suche nach Ingmar Bergman« schürft etwas tiefer, ist aber in seiner bizarren Eitelkeit schwer erträglich. Gab es denn wirklich keinen Produzenten oder Redakteur, der ihr das Bekenntnis ausreden konnte, sie habe erst einen Film über ihn drehen wollen, als sie erfuhr, dass »Die bleierne Zeit« zu seinem Lieblingsfilmen gehörte?
Ihr Film hat mir immerhin vor Augen geführt, dass wir alle nur Touristen sind auf dem Kontinent Ingmar Bergman. Aus den Dokumentationen nehmen wir Souvenirs mit, die unsere Sehnsucht nicht stillen, aber vielleicht die Neugier wieder entfachen. Da es nie verkehrt ist, mit leichtem Gepäck zu reisen, will ich genügsam sein und nur zwei Perlen aus »Bergman - A year in a life« mitnehmen. Zunächst das Arbeitsfoto, das Bergman auf dem Set von »Das siebente Siegel« im vertrauten Zwiegespräch mit dem Tod zeigt und das Licht auf sie fällt, als hätte es Gunnar Fischer extra für diesen Augenblick gesetzt, und dann die Antwort auf die Frage nach Bergmans liebster Großaufnahme: Es ist der Schluss von »Wilde Erdbeeren«, der letzte Blick von Victor Sjöström am Ende des Tages, an dem sein Leben noch einmal an ihm vorüberzog.
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