Charakterslapstick

In Wroclaw gibt es ein Hotel, das ich wegen seiner smarten Einrichtung, moderaten Preise und nicht zuletzt seiner schönen Lage gegenüber der Synagoge schätze. Es gibt sich sehr modern und digital. Allerdings verfügt es auch über eine kleine, wie beiläufig in der Lobby verteilte Bibliothek. Zum Gutteil besteht sie aus Bildbänden, sozusagen der Taschen-Internationale. Ich staunte nicht schlecht, als ich diesmal neben der Kaffeemaschine den Katalog der letztjährigen Retrospektive von Locarno entdeckte.

Schon im Vorjahr hatte ich vergnügt in Matt Soller Zeitz' Album über Wes Anderson geblättert. Auch dessen Anwesenheit hatte mich anfangs überrascht; andererseits war dies aber keine so entlegene Wahl für ein Hotel, das Hipster aus aller Herren Länder anziehen will. Aber wer nur mochte sich an diesem Ort für Jacques Tourneur interessieren und für das, was Carlo Chatrian, Chris Fujiwara, Pierre Rissient und andere über ihn zu sagen haben? Hatte es ein Gast vergessen oder gespendet? Die junge Dame an der Rezeption gab mir erst zögerlich, aber dann ausführlich Antwort. Die Buchauswahl treffe der Besitzer, versicherte sie, das sei Teil des Marketings. Von Tourneur hate sie noch nie gehört, aber immerhin sei ihr Haus ja auch Kooperationspartner des Filmfestivals (das momentan in Wroclaw stattfindet). Da es zu einer kleinen, langsam expandierenden Kette gehört, wies sie mich auf die Neueröffnung einer Filiale in Lodz hin, wo es ein eigenes Kino geben wird; gewissermaßen als Hommage an die berühmte dortige Filmschule. Aber das wäre eine andere Geschichte. Diese hier handelt vom exzellenten Ruf und der verblüffenden Ausstrahlung der Locarno-Retrospektiven.

In diesem Jahr ist sie einem weiteren Hollywood-Veteran gewidmet, den längst nicht mehr jeder Cinéphile auf dem Schirm hat: Leo McCarey. Heute Abend eröffnet seine Laurel&Hardy-Burleske »Liberty« das Programm auf der Piazza Grande, und bereits am Nachmittag laufen zwei seiner besten Filme aus den 30ern (»Ruggles of Red Gap« und »Make way for tomorrow«) sowie eine Reihe von Charley Chase-Kurzfilmen. Kaum vorstellbar, dass dem designierten Berlinale-Chef Carlo Chatrian in anderthalb Jahren hier ein ebenso lustiger Auftakt gelingen wird.

Dabei ist McCarey eine durchaus schwierige Figur: ein erzkonservativer, irischer Katholik mit ausgeprägtem Hang zur Sentimentalität, der auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära mit »My Sohn John« einen der Meilensteine antikommunistischer Propaganda verantwortete. Einen guten Klang hat sein Name trotzdem; nicht zuletzt wegen des Kompliments, das ihm Jean Renoir einmal machte: Niemand in Hollywood würde so viel von Menschen verstehen wie McCarey. Dieses Lob muss Frank Capra sehr geschmerzt haben.

Ohnehin hat er kluge Bewunderer gefunden: Alain Resnais schätzte ihn so sehr, dass er verfügte, bei seiner Trauerfeier solle ein Ausschnitt aus „Love Affair“ laufen. Zwar war McCarey ein mehrfacher-Oscar-Gewinner (für »The Awful Truth«/»Die Schreckliche Wahrheit« und »Going My Way«/ »Der Weg zum Glück«) und häufiger Kassenmagnet (seine Komödien um den von Bing Crosby gespielten Father O'Malley gehören zu den umsatzstärksten Filmen der 40er und mit seinem Auto-Remake »An Affair to remember« /»Die große Liebe meines Lebens« feierte er 1957 ein glänzendes Comeback). Nach dem Erfolg von »The Bells of St. Mary's« /»Die Glocken von St. Marien« war er zeitweilig der größte Steuerzahler Hollywoods. Als auteur ist er jedoch eine französische Erfindung. Die Kritiker von "Cahiers du cinéma" und "Positif" entdeckten ihn als einzigartiges Erzähltemperament und hielten ihm noch bis in die Untiefen seines Spätwerks die Treue. Man darf gespannt sein, wie das Festivalpublikum auf den saitirischen Rundumschlag »Rally 'Round the Flag, Boys« /»Keine Angst vor scharfen Sachen« reagieren wird, der einmal das trotzige pièce de résistance der französischen Begeisterung war, wofür mittlerweile Jean-Pierre Coursodon und Bertrand Tavernier in ihrer Neuausgabe von »50 ans de Cinéma américain« mächtig Abbitte geleistet haben. Ich fürchte, sein letzter Film »Satan Never Sleeps« / »China Story« bewegt sich außerhalb der Reichweite jedweder Rehabilitation; als ich ihn vor Jahrzehnten sah, hatte ich den Eindruck, hier verspotte ein Regisseur sein eigenes Werk.

Die Retrospektive stellt ihn mit wirklich bewundernswerter Gründlichkeit vor. Nicht nur zeigt sie eine umfangreiche Auswahl seiner stummen Two-Reeler mit Laurel&Hardy, Chase und anderen Komikern, sondern bringt sogar seine Anfänge als Scriptgirl und Assistent von Tod Browning wieder zum Vorschein. Er ist übrigens einer der ersten Hollywood-Regisseure, die tatsächlich in Los Angeles geboren wurden. Ursprünglich wollte er Anwalt werden, was man noch an seinem Gespür für intime Konfrontationen merkt. Und sein Traum von einer Karriere als Musiker hat sich ebenso in seinen Filmen niedergeschlagen.

Er war bekannt für seine Lust an der Improvisation (aber nicht dafür gefürchtet, denn Drehpläne unterschritt er oft) und hatte auf dem Set stets ein Klavier stehen, an das er sich setzte, wenn ihm gerade mal keine spritzigen Dialoge einfielen. Drehbücher waren für ihn nur ein Grundriss, aus dem er sich beherzt befreite. Er schweift gern ab; meist zum Glück des Zuschauers. Kein Film bleibt bei ihm, wie er ist,;alles befindet sich im Fluss und der Tonfall wechselt behände.

Ich vermute, diese Gabe des Stegreifs hat er sich in der Fließbandproduktion bei Hal Roach angeeignet. »Liberty« beispielsweise demonstriert, dass ihm das Temperament der Darsteller (L&H), eine Situation (ihr verzweifelter Versuch, die Hosen zu tauschen und der Polizei zu entkommen), ein Dekor (das Stahlgerüst eines Wolkenkratzers) und ein paar Requisiten (die Idee mit der Leiter und dem Seil ist wirklich halsbrecherisch) schon genügten, um daraus komische Funken zu schlagen. Diese Art von Charakterslapstick übertrug er mit viel Geschick aufs Tonfilmkino, man denke nur an die hinreißende Spiegelszene in »Duck Soup«, die ein Kabinettstück des Augentrugs ist.

Die Kernfigur seines Kinos ist das ungleiche Gespann (in »Six of a Kind« gibt es gleich drei davon), weshalb ihm ein Star-Vehikel wie »Belle of the Nineties« mit Mae West nicht so ganz lag (wenngleich die Backstage-Szenen ungeheuer lebhaft sind und ihm großartig aufgeklärte Ab- und Überblendungen gelingen). Er verließ sich nicht einfach auf das Temperament seiner Darsteller, sondern auf die Reibung, die bei der Paarung komödiantischer oder romantischer Widersacher entsteht. Eine Moral erwächst bei ihm aus der Kommunikation der Individuen. Jede Position erhält ihr Korrektiv. Er ist ein eminent demokratischer Regisseur, ein Meister des Ensemblefilms. Wenn er inspiriert ist, begibt er sich flink ins Schlepptau seiner Darsteller, kadriert sehr spontan und stört sich im Taumel gar nicht daran, dass ab und zu mal der Schatten des Tongalgens zu sehen ist.

Dabei ist die Peinlichkeit eine weitere Konstante seines Werks. Jede seiner Figuren findet irgendwann einen Grund, sich zu genieren. Das ist kaum zu ertragen in »Make Way for Tomorrow«, dessen deutscher Titel »Kein Platz für Eltern« schon die ganze Tragödie enthüllt: Da die Eltern ihre Hypothek nicht mehr bezahlen können, verlieren sie ihre Wohnung und kommen zunächst reihum bei ihren Kindern unter, müssen sich aber am Ende trennen. Mir macht der Film immer etwas Angst, besonders die Bridgepartie mit dem herzzerreißenden Telefongespräch. Ich prophezeie mal, dass bei den Vorführungen in Locarno kein Auge trocken bleibt. Es war McCareys größter Misserfolg, aber sein eigener Lieblingsfilm und sein folgenreichstes Werk, dessen Einfluss sich von Ozus »Reise nach Tokio« über Taverniers »Daddy Nostalgie« bis zu Doris Dörries »Kirschblüten« erstreckt.

Das beglückende Gegenstück zur Bridge-Szene ist Gettyburg-Rede, die in „Ruggles of Red Gap“ (Ein Butler in Amerika) zwar keiner der Einheimischen erinnert, dafür aber der englische Majordomus Charles Laughton Wort für Wort aufsagen kann. Er entdeckt Amerika (von den USA ist nie die Rede) als das Land der Gleichheit, sozialen Emanzipation und Entfaltungsmöglichkeiten und wird damit ganz aus dem Herzen seines verflixt patriotischen Regisseurs sprechen. Leo McCareys Werk lädt emphatisch zur Neubesichtigung ein. Ich bin gespannt, welche Facetten das Publikum in Locarno an ihm entdecken wird, Und freue mich auf den Katalog, der vielleicht demnächst in der Lobby meines Hotels in Wroclaw steht.

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