Sie hat viel gesehen in Hiroshima

Emmanuelle Riva

Es sind nicht immer die glücklichen Begegnungen, die später am stärksten im Gedächtnis bleiben. Manchmal sortiert die Erinnerung das Gelungene mitleidslos aus und beißt sich fest an den Treffen, bei denen die Chemie nicht stimmte, die voller Misstöne steckten und bei denen man die falschen Fragen stellte.

Bei mir jedenfalls wirken die Interviews, die überhaupt nicht rund liefen, häufig länger nach. Sie haben sich nicht erledigt, sind spannungsvoller. Zuweilen schaffen sie eine andauernde und selbstverständlich unerwiderte innere Verbundenheit. Die Begegnung mit Emmanuelle Riva, von deren Tod ich heute morgen in »Le Monde« erfuhr, zählt zu diesen Erlebnissen. Ich führte Ende der 1980er Jahre für die »taz« ein Gespräch mit ihr. Sie gastierte in der Berliner Schaubühne und sollte am Abend in Roger Planchons Inszenierung des Molière-Stücks »Georges Dandin« auftreten. Der grazilen Dame zu begegnen, war für einen Anfänger wie mich eine ziemlich einschüchternde Erfahrung. Ihrem Tonfall war unmissverständlich die Herablassung einer großen Theaterschauspielerin anzumerken, die ihre Kinoarbeit eher als einen Nebenaspekt ihrer Laufbahn betrachtete. Offenkundig verdross es sie, vor allem dazu befragt zu werden. Aber sie hatte Geduld. Meinen Französischkenntnissen misstraute sie zu Recht.

Sie fand, dass zu ihrem damals berühmtesten Film, »Hiroshima mon amour«, schon alles gesagt sei. Dennoch ließ sie sich ein paar Sätze zu Alain Resnais' Film entlocken. Glücklicherweise schätzte ich ihre Zusammenarbeit mit Georges Franju sehr. »Die Tat der Therèse D.« und »Thomas, der Betrüger« bedeuteten auch ihr viel. Mit der Fluchtbewegung der Heldin aus der kleinbürgerlichen Enge im ersten Film konnte sie sich offenkundig identifizieren. Und die zärtliche Fürsorge, die mir an ihrer Rolle als Krankenschwester im zweiten gefallen hatte, weckte anscheinend erfreuliche Erinnerungen in ihr. Für die Arbeit mit Jean-Pierre Melville an »Eva und der Priester« galt dies nicht; der war ja auch kein ausgesprochener Frauenregisseur. Über ihre männlichen Partner, Philippe Noiret und Jean-Paul Belmondo, sprach sie mit etwas teilnahmsloser Höflichkeit. Auf das KZ-Drama »Kapo« von Gillo Pontecorvo gingen wir gar nicht erst ein, der war seinerzeit nur ein schlimmes Gerücht; die Verurteilung seiner ästhetischen Unmoral in den »Cahiers du cinéma« war berühmter als der Film selbst.

Wie wäre eine Begegnung mit ihr wohl ein paar Jahrezehnte später verlaufen, als sie mit »Liebe« einen neuerlichen Triumph feierte? Mein Französisch hatte sich gebessert, ich war zumindest mit ihrer Leinwandarbeit noch vertrauter. Aber auch bei unserem damaligen Gespräch kam eine Menge heraus. Das Manuskript und den Zeitungsbeleg sind zwar einer Überschwemmung des Kellers zum Opfer gefallen. Aber mir scheint, das Interview zeichnete ein lebendiges Bild von ihr. Die Arbeit mit Resnais verwunderte sie: Sie fand es merkwürdig, dass er so viel Wert auf die Präsenz ihrer Erzählstimme legte. Sie hatte den Eindruck, seine gesamte Schauspielerführung sei darauf konzentriert gewesen, dafür den exakten Tonfall, die richtige Musikalität zu finden. Über ihren raschen Abschied vom Starruhm sprach sie als einer existenziellen Notwendigkeit. Ihr Leben fand anderswo statt, auf durchaus geheimnisvolle Weise. Ich fand es beeindruckend, dass eine junge Schauspielerin sich weigerte, als nur Filmstar definiert zu werden. Das hätte sie zu sehr eingeschränkt und von der Bühne und anderen Ausdrucksmöglichkeiten abgehalten. Damals hatte sie schon zwei Gedichtbände veröffentlicht, die aber nie übersetzt wurden. Im Kino arbeitete sie ab Mitte der 60er tatsächlich nicht unbedingt sporadisch, stellte sich ihm aber vorzugsweise in Nebenrollen zur Verfügung. Nicht einmal über Marco Bellocchios »Diese Augen, dieser Mund« wollte sie während unseres Gesprächs ein Wort verlieren.

Am Abend sah ich sie dann auf der Bühne. Sie spielte mit jener energischen Leichtigkeit, die Molières Text brauchte. Es fiel mir schwer, den Blick von ihr abzuwenden, auch wenn immerhin Daniel Gélin und Roger Planchon die Bühne mit ihr teilten. Ein paar Jahre später sah ich sie im Kino in »Drei Farben: Blau« und hoffte, sie würde nun wieder verstärkt den Anschluss zum Kino suchen. Danach konnte man sie hier zu Lande aber nur in kleineren Rollen in »Schöne Venus« und »Ein Familientreffen mit Hindernissen« sehen. Ich entdeckte sie in älteren Filmen, vor allem dem schönen Ensemblemelodram »Adua und ihre Gefährtinnen« von Antonio Pietrangeli, wo sie neben Simone Signoret herausragt. Eine 1960 noch ungekannte Aura zärtlicher Frauenliebe umgibt sie hier.

Vor ein paar Jahren sah ich in Paris einige der Fotos, die sie während der Dreharbeiten in Hiroshima aufgenommen hatte. Sie zeigten ihre Neugierde darauf, wie in dieser Stadt kaum 15 Jahre nach der Katastrophe wieder Alltag stattfinden konnte. Auch in den Aufnahmen war es wiederum die Zärtlichkeit ihres Blicks, die mich beeindruckte. Sie hat viel gesehen in Hiroshima.

Von dem Erfolg und den Preisen, mit denen sie nach »Liebe« überschüttet wurde, ließ sie sich nicht blenden. Beides war wohlverdient – ohne ihre Hingabe hätte Hanekes Film nicht funktioniert. Wird es ihr mit über 80 schwergefallen sein, in der Duschszene unbekleidet aufzutreten? Riva schien den wiedererlangten Ruhm zu genießen, wahrte aber Abstand. Ihre Oscar-Nominierung wurde als Sensation gehandelt: Sie war die älteste Schauspielerin, die je ins Rennen um die Beste Hauptdarstellerin ging. Bei der Verheihung wurde sie wie eine Exotin bestaunt: als habe sie ein Verfallsdatum heroisch überwunden. An dem Tag feierte sie ihren 86. Geburtstag.

Ihr Auftritt bei den César ein paar Tage zuvor war würdevoller in Szene gesetzt. Sie trug eine Punk-Frisur und nahm ihren Preis stellvertretend für das gesamte Team entgegen. »Freund, versäume nicht zu leben«, zitierte sie Kleist, »denn die Jahre fliehn. Und es wird der Saft der Reben uns nicht länger glühen.« Den César konnte die grazile Dame kaum tragen: »Er wiegt mehr als ich!«

Meinung zum Thema

Kommentare

Sehr schön, sehr lebendig, kein allwissender Nachruf, sondern an den Begegnungen mit Riva entlang erzählt.

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