Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Heute läuft in Cannes »Okja« von Bong Joon-ho im Wettbewerb. An der Festivalpräsenz der Netflix-Produktion hat sich bereits im Vorfeld eine Kontroverse entzündet, die in den nächsten Tagen zweifellos weitergehen wird, zumal die Streamingplattform mit »The Meyerowitz Stories« von Noah Baumbach noch einen weiteren Kandidaten in das Rennen um die Goldene Palme schickt.
Barbara Schweizerhof hat in Ihrem Eröffnunsbericht gestern bereits auf den Aufruhr hingewiesen, den die Öffnung des Wettbewerbs für diese neue Produktionsform hervorruft. Die Hintergründe des Streits sind aufschlussreich. Einerseits demonstriert die Einladung nach Cannes eine Aufgeschlossenheit, die dem Umstand Rechnung trägt, dass großes Kino nicht nur auf der großen Leinwand heimisch sein muss. Auf der anderen Seite empören sich die französischen Kinobesitzer und weitere Interessenverbände darüber, dass ein theoretischer Palmengewinner nach Festivalende nicht den heimischen Kinogängern zugänglich sein wird, sondern nur Abonnenten des amerikanischen Streamingdienste. Weltweit sollen das rund 100 Millionen sein, über die Abonnnentenzahl in Frankreich schweigt sich Netflix derzeit aus.
Hier treffen Maximalpositionen aufeinander. Anders als die Konkurrenz Amazon, die mit »Wonderstruck« von Todd Haynes ebenfalls im Wettbewerb vertreten ist, weigert sich Netflix, seine Produktionen in Frankreich in den Verleih zu bringen. In den USA, Großbritannien sowie der südkroreanischen Heimat des Regisseurs hingegen soll »Okja« einen Kinostart erhalten. Als ein großer Bewunderer des Filmemachers finde ich diese Einschränkung schon mal ziemlich ärgerlich. Der Zorn der französischen Kinobesitzer, deren Vertreter auch im Verwaltungsrat des Festivals sitzen, ist weit größer. Sie beargwöhnen, dass Netflix den Kinosälen einen Todesstoß versetzen will. Dessen Leitung begrüßt selbstverständlich die Einladung an die Croisette, die nach seiner Ansicht zeigt, dass sich das Festival und der Kinobetrieb endlich der Evolution der Medienbranche anpasse. Sie argumentiert mit der normativen Kraft des Zukünftigen. In ihrer Rechnung ist der Kinosaal obsolet geworden.
In Europa und besonders in Frankreich ist er es mitnichten, wie jüngste Statistiken belegen. Die Kinos verzeichneten 2016 bemerkenswerte Zugewinne; nur Deutschland trübt das Ergebnis etwas. Die exception culturelle, die Frankreich gern für sich geltend macht, stellt Streamingdiensten indes ungeheure Hürden in den Weg. Ein Film, der im Kino gestartet ist, darf zwar schon nach vier Monaten als Video on demand zugänglich sein, im Bezahlfernsehen nach zehn Monaten ausgestrahlt werden und im frei empfänglichen Sendern nach 22 Monaten. In der jetzigen Chronologie der Auswertung (bezeichnend, dass die DVD als Glied in dieser Kette gar nicht erst mehr erwähnt wird!) darf eine Streamingplattform ihn erst nach drei Jahren zeigen. Dann dürften »Okja« und »The Meyerowitz Stories« ihr Publikum längst gefunden haben. Als Produzent hätte Netflix also ein verlustreiches Nachsehen. Nicht alle Interessenverbände in Frankreich sprachen sich gegen dessen Pläne aus. Die Drehbuchautoren erklärten sich solidarisch mit den Filmemachern (und vielleicht auch mit einem zukünftigen Arbeitgeber). In der Tat sind diese 36 Monate eine absurd lange Zeitspanne.
Damit stößt meine Sympathie für den Streamingdienst momentan aber an ihre Grenzen. Im »Guardian« las ich am Dienstag von einem neuen Service, den er seinen Kunden anbietet. Er nennt sich »skip intro« und ermöglicht genau das: die Anfangstitel eines Films zu überspringen und gleich in den Content einzusteigen. Zwar kann man verstehen, wenn Bingewatcher es leid werden, wenn vor jeder neuen Folge die immergleichen Credits ihrer Serie laufen. Dennoch ist das ein unziemlicher Eingriff, der mich zweifeln lässt, ob Netflix es mit der Filmkunst wirklich gut meint. Er folgt einer verzweifelten Fernsehlogik, der Angst vor der Ungeduld der Fernbedienung. Überdies lässt mich die Meldung an eine Beobachtung denken, von der mir vor ein paar Tagen ein Buchhändler berichtete: Leser von eBooks hätten ihm erzählt, sie könnten sich beim Lesen oft gar nicht mehr daran erinnern, wie das Buch heißt und wer es geschrieben hat. Natürlich war der Mann nicht unvoreingenommen.
Seit etwa anderthalb Jahrzehnten beobachte ich mit Bedauern, wie sich das Kino eines seiner edelsten Ausdrucksmittel begibt, in dem es die Credits in den Abspann verbannt. In letzter Zeit habe ich allerdings den Eindruck, der Vorspann erlebe eine Renaissance. Aus dem europäischen Kino ist er nie ganz verschwunden, auch in Hollywood besinnt man sich zuweilen wieder auf seine Erzählkraft. Schließlich ist er die Visitenkarte eines Films. Mit ihm gibt er sich seinem Publikum zu erkennen. Er ist eine Einladung, wachsam in die Fiktion einzutreten. Gleichviel, ob die Creditsequenz nun die Handlung metaphorisch vorwegnimmt (wie bei dem großen Saul Bass und in den Bondfilmen) oder als eine bündige Exposition dient – stets ist sie auch ein Indiz erzählerischer Ehrlichkeit. Der Vorspann schafft Vertrauen, besiegelt einen Pakt mit dem Zuschauer. Die Offenlegung der Namen der Künstler, die an einem Film mitgewirkt haben, setzt diese einerseits in ihr Recht. Dem Zuschauer signalisiert dies zugleich, dass ihn etwas erwartet, das gestaltet wurde. Der Vorspann ist nie unschuldig. Aber Netflix macht ihn zum unschuldigen Opfer.
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