Der richtige Mann
Mit seinem Kosenamen konnte ich mich nie anfreunden. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, ihn in Gedanken je »Hank« zu nennen. Er ermunterte nicht unbedingt zu solch ungenierter Vertraulichkeit. Dazu war die Ehrfurcht zu groß, die Henry Fonda einflößte. Offenbar jedoch ließ er es zu, dass man ihn so nannte.
Und tatsächlich schien er mir vertraut. Ich kann mich an keine Zeit in meiner Kindheit und Jugend erinnern, in der ich ihn nicht als eine Selbstverständlichkeit betrachtete. Im Fernsehen war er eigentlich immer präsent, mit seinen großen Rollen bei Ford, Hitchcock, Henry King, Lang, Sidney Lumet und Anthony Mann. Auch »Krieg und Frieden« lief ständig, von dem ich erst später erfuhr, wie sehr er ihn verachtete. Im Kino trat er damals nur noch in minderen Filmen auf, dennoch blieb seine Legende intakt. Immerhin konnte ich auf der Leinwand von ihm Abschied nehmen, als »Am goldenen See« herauskam. Im Nachhinein schäme ich mich gehörig, wie leicht ich dessen Sentimentalität auf den Leim ging; auch um seinetwillen, denn sie war so untypisch für ihn.
In seinen Filmen erfuhr man viel über das Land, aus dem er stammte. Er stand ein für die Mythen Amerikas. Dabei schuf er ein Freundbild. Das war womöglich nicht seine Absicht, aber unbestreitbar seine Ausstrahlung und sein Mandat. Es war ein anderes Amerika als das, aus dem Doris Day, James Dean oder Jerry Lewis kamen. Es unterschied sich auch von dem, das John Wayne vertrat, der sein Partner in einigen Filmen war und mit dem ihn, trotz grundlegender ideologischer Gegensätze, eine enge Freundschaft verband. Fonda verkörperte weniger den amerikanischen Traum als vielmehr eine amerikanische Hoffnung. All dies entdeckte ich noch in einer Zeit der Ahnungen, nicht des Wissens. Aber ein so anspruchsvoller Schauspieler wie er erzog den Zuschauer zu kluger Intuition. Er war eine Figur der Bekräftigung, aber werder treuherzig noch unkompliziert. Das unterschied ihn von dem lasziv-folkloristischen Zug, den ein weiterer Freund von ihm in ähnliche Rollen einbrachte: James (oder sollte ich besser sagen: Jimmy?) Stewart.
Fondas Mitteilungen über Amerika erreichten mich nicht allein über die Handlung seiner Filme. Sein Körperspiel war ebenso beredt. Es war überlegt, streng und beherrscht: ein Instrument, das er effektiv beherrschte. Unvorstellbar, dass diesem Schauspieler eine ungeschickte, linkische Geste unterlaufen könnte. (Seine Kunst teilt sich in Totalen oder Halbtotalen fast noch mehr mit als in Nahaufnahmen.) So verband sich mit ihm die definitive Ausformulierung gewisser Handlungen. Niemand spielte so wie sein Abe Lincoln auf der Maultrommel, spuckte Kautabak wie sein Frank James oder fand sein inneres Gleichgewicht wie sein Wyatt Earp auf der Veranda in Fords Tombstone. Sein Heldentum war unverhofft und besonnen, gar nicht auftrumpfend. Fonda besaß Autorität, ohne seine Stimme erheben zu müssen.
Am stärksten beeindruckte mich natürlich sein gemessenes Schreiten, das eine Grazie besaß, die man nur erreichen kann, wenn man 187 Zentimeter misst. Sein Gang war zielstrebig und vornehm. Mit dieser Begeisterung stand ich nicht allein. Sergio Leone meinte, seine Art, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sei ein unvergleichlicher ästhetischer Effekt. James Baldwin berichtete von einem Freund, dem nach »Früchte des Zorns« der Satz entfuhr: »White men don't walk like that!«. Das beschreibt auch eine Differenz, ein Ausscheren, welche mir seinerzeit noch nicht bewusst waren. Für mich blieb er vorerst der Inbegriff einer Stabilität, die keinen Zweifel kannte und kein unruhiges Gewissen. Jemand, der so ging, musste einfach aufrecht sein. Er kannte den Königsweg.
Daran rüttelte auch seine Rolle als hochmütiger Kommandant von Fort Apache noch nicht, der seine Soldaten opfert für den eigenen Ehrgeiz. Wie viel Raum für Kaltblütigkeit seine Persona zuließ, entdeckte ich erst später in »Spiel mir das Lied vom Tod«, wo mich vor allem schockierte, wie entspannt er als Bösewicht wirkte. Aber da war der Pakt, den ein glaubwürdiger Schauspieler mit seinen Zuschauern schließt, längst unverbrüchlich: Seine Integrität schob sich vor die Rolle und verhinderte es, die Abgründe zu erkennen. Fondas Einsicht in die menschliche Natur war eine untadelige Errungenschaft, die seine statuarische Unschuld nicht trübte. Er war ein wachsamer, mit Empathie begabter Beobachter, was ihn als Darsteller gleichsam zu einem Kronzeugen werden lässt.
Er war eine Institution. Diesen Status erreicht zu haben, kann für einen Darsteller verheerend sein: Es macht eine Weiterentwicklung eigentlich überflüssig. Für den Zuschauer ist das nicht minder verhängnisvoll: Es verschleiert seinen Blick auf die Brüche. Bei Fonda jedoch ist der Spielraum für beide Parteien größer. Er trägt etwas Unveränderliches in jede Figur, eine unverwechselbare Kontur. Aber er spielt nicht sich selbst, sondern vertieft sich Charaktere, die ihm glaubwürdig erscheinen. Sein Spektrum war nicht unbegrenzt, aber weit, praktisch schon von Anfang an: Tom Joad entdeckt, Abraham Lincoln weiß.
Fonda wirft grundsätzliche Fragen auf. Im Kern betreffen sie das Verhältnis von Treue und Wandel. Weshalb beschäftigt er mich im Moment so sehr? Das Österreichische Filmmuseum widmet ihm gerade eine Retrospektive. Es ist die letzte, die Alexander Horwath als dessen Leiter verantwortet, sozusagen sein persönliches The Last Hurrah. Die Filmreihen, die er gestaltete, habe ich oft im Wiener »falter« begleitet, zuweilen auch an dieser Stelle. Sie lieferten stets einen wunderbaren Anlass, sich Gedanken zu machen über das Wesen des Kinos und tief zu schürfen in der Filmgeschichte. Fonda spielte da schon einmal eine Rolle, in einer Reihe, die Schauspieler wie Barbara Stanwyck, Isabelle Huppert, Peter Lorre, Vladimir Fogel und Kinuyo Tanaka als Mitautoren ihrer Filme begriff. An dieser Liste sehen Sie schon, welch wagemutigen, verstiegenen Wege die Cinéphilie in diesem Haus beschreitet. Dieser Text ist also ein dankbarer und zuversichtlicher Abschied, denn es hat sich ein hervorragenden Nachfolger gefunden.
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