Das Schweigen der Männer
Die schwerwiegendsten Anschuldigungen gegenüber Harvey Weinstein, die vor dem 5. Oktober bekannt wurden, stammten von Filmemachern, die sich über künstlerische Übergriffe beschwerten. Wie er im Schneideraum mit »Mimic« umsprang, sei eine traumatischere Erfahrung als die Entführung seines Vaters für ihn gewesen, sagte Guillermo del Toro einmal. Den Spitznamen »Harvey Scissorhands« trug der Mogul zu Recht und bestimmt mit Stolz.
Die Figur des unbeherrschten Produzenten, der seinen Machtanspruch lautstark geltend macht, gehört zur Folklore des Filmgeschäfts. Weinstein verkörperte sie, mit der bulligen Statur und derben Visage eines ehemaligen Preisboxers, geradezu mustergültig. Jedes anständige Besetzungsbüro hätte sich ob der eigenen Phantasielosigkeit geschämt. Seit zwei Wochen erfahren wir nun täglich, fast stündlich aufs Neue, dass er das Klischee des selbstherrlichen Magnaten mit noch weit abscheulicherer Gründlichkeit beglaubigt. Müssen uns diese Enthüllungen überraschen? Ich denke ja. Zwar werde ich später der Frage nachgehen, wie eng der Zusammenhang zwischen Weinsteins Machtposition und seinen sexuellen Übergriffen ist, will aber für den Moment erst einmal nur festhalten, dass nicht jeder Choleriker gleich ein Raubtier sein muss.
Auch Jean-Pierre Melville, der heute vor 100 Jahren geboren wurde, war berüchtigt für seine Wutausbrüche am Set. Es gehörte zu den Gepflogenheiten des Regisseurs, Techniker vor versammelter Mannschaft anzuschnauzen. Er demütigte Szenenbildner, in dem er Tapeten von der Wand riss, die ihm nicht gefielen. Es muss eine Tortur gewesen sein, mit ihm im Schneideraum zu sitzen. Sein Zorn richtete sich auch gegen Darsteller. Jean-Paul Belmondo drohte vor Ende der Dreharbeiten ihres dritten gemeinsamen Films »Die Millionen eines Gehetzten«, alles hinzuschmeißen aus Empörung über die Art, wie Melville mit ihm und seinem Partner Charles Vanel umsprang. Als Belmondo einige Szenen nachsynchronisieren musste, erklärte er sich nur unter der Bedingung dazu bereit, dass der Regisseur nicht zugegen war. Lino Ventura, dem er bei »Der zweite Atem« übel mitgespielt hatte, sprach während der Dreharbeiten zu »Armee im Schatten« angeblich nur über einen Assistenten mit ihm. In Wochenschauberichten vom Set sieht das zwar ein wenig anders aus, aber die professionelle Eintracht könnte ja für die Kameras gestellt sein. Seine Regieassistenten litten anscheinend am meisten unter ihm, andererseits wurden drei von ihnen (Yves Boisset, Volker Schlöndorff und Bertrand Tavernier) später selbst höchst beachtliche Regisseure.
Die Wutanfälle waren die hässliche Facette der Legende vom unbestechlichen Perfektionisten, an der Melville zeitlebens zimmerte. Mit ihnen unterstrich er aber auch, wer der Herr im Haus war. (Er besaß in der Rue Jenner im 13. Arrondissement ja sein eigenes Studio, sagen wir besser: Atelier.) Ansonsten legte er Wert auf einen untadeligen Ruf. Zwar suchte er einige Darstellerinnen auf dem Straßenstrich nahe der Madeleine, ließ sich auf diesen Streifzügen aber stets von seiner Frau Florence oder einem Scriptgirl begleiten. Nie kamen Gerüchte auf, Schauspielerinnen würden ihre Rollen einer etwaigen promotion canapé (ja, im Französischen klingt selbst so was noch charmant) verdanken. Zum Wüstling fehlte ihm die Neigung. Er haderte übrigens mit seinem Aussehen, verbarg seine Glatze unter einem Stetson und die Augen hinter einer Ray-Ban (tatsächlich waren sie sehr schön). Der aus dem jüdischen Bürgertum im Elsass stammende Regisseur, der die amerikanische Kultur liebte, war Puritaner. Sex spielt in seinen Kriminalfilmen kaum eine Rolle; allenfalls blitzt er in Form schicklicher Nacktheit auf. Schlöndorff schreibt seinem schwierigen Freund einen Familiensinn zu, der typisch für Elsässer sei.
Er hat große Schauspielerinnen in starken Rollen inszeniert: Nicole Stéphane in »Das Schweigen des Meeres« und »Die schrecklichen Kinder«, Emmanuelle Riva in »Eva und der Priester« und schließlich Simone Signoret in »Armee im Schatten«. Aber diese Filme beruhten sämtlich auf Romanvorlagen. In seinen eigenen Drehbüchern fand er immer weniger Platz für sie. In »Der Teufel mit der weißen Weste« spielt Fabienne Dali noch eine zuverlässige Gefährtin, es regt sich sogar eine Hoffnung auf ein bürgerliches Leben. Diese ist auch in »Der zweite Atem« zu spüren, und es wäre wunderbar gewesen, wenn er seinen ursprünglichen Plan verwirklicht hätte, Signoret als Venturas unerschütterlich loyale Partnerin zu besetzen. Aber nach »Der eiskalte Engel« sind Frauen kaum mehr als ein dekoratives Element in seinen Polars. Dem Vorwurf der Misogynie sah er sich, zu seinem großen Bedauern, häufig ausgesetzt. Wirklich entkräften konnte er ihn nie. Seine großen Themen – Ehre, Freundschaft, Verrat – fand er offenkundig besser in einem verschwiegenen, ritualisierten, männerbündnerischen Kosmos aufgehoben. Er war ein Konservativer, der nach dem Pariser Mai aufhörte, ein Zeitgenosse seines Publikums zu sein. Seine Filme verraten schon davor die Nostalgie nach einer Vergangenheit, die es nie gab. Dabei finde ich, dass sie später durchaus Berührungspunkte mit Michelangelo Antonioni haben: Auch sie handeln von Leere und Entfremdung in einer modernen Welt, deren Antlitz zusehends anonymer wirkt.
Während Melvilles Kino untrennbar mit der Persönlichkeit ihres Autors verbunden ist, lässt Harvey Weinsteins Werk auf Anhieb wenig Rückschlüsse zu. Gewiss, einige Weinstein-Titel könnte man nun prophetisch lesen, »Der menschliche Makel« etwa oder »Scandal«. Auch seiner Filmographie eignet ja etwas Prahlerisches, eine anmaßendes Flair von Liberalität. Sie steckt voller Prestigefilme und ist über weite Strecken banal. Ich bezweifle, dass von den Aberhundert Filmen, die unter dem Banner von »Miramax« und »The Weinstein Company« entstanden sind, mehr als ein Dutzend langfristig Bestand haben werden. Das wären anderthalb weniger, als Melville gedreht hat. Natürlich ist es ungerecht, die Brillanz eines Regisseur gegen die Geschäftigkeit eines Produzenten aufzurechnen. Möglicherweise schmälere ich seine Verdienste um das Independentkino der 80er und 90er, aber sie werden überschattet von seinem späteren, opportunistischten Streben nach Oscar-Hegemonie.
Immerhin fanden Weinsteins Produktionen aber Platz für starke (oder vermeintlich starke) Frauenfiguren, etwa »Der englische Patient«, »Shakespeare in love«, »Kill Bill« oder »Der Vorleser«. Die abgeklärt verletzbare Darstellung Patricia Clarksons ist noch das Beste an »Der menschliche Makel«; »Carol« ist ein echter Glanz. Das prunkende Ensemble von »Nine« hingegen ist so dumm vergeudet, dass der Film den Tatbestand der Frauenfeindlichkeit fast so eindeutig erfüllt wie »Sin City«. Hingegen ist die abgeklärt verletzbare Darstellung Patricia Clarksons noch das Beste an »Der menschliche Makel« und »Carol« ein echter Glanz. Die rüpelhafte Jovialität, mit der Weinstein sich in Gesellschaft seiner weiblichen Stars auf roten Teppichen präsentierte, legt nahe, dass er vor allem ein Trophäenjäger war. Von sexuell belästigten Mitarbeiterinnen war, bislang zumindest, nicht die Rede. Man hat selten Gelegenheit, einen Nachruf schon zu Lebzeiten zu schreiben. In diesem Fall ist es angebracht, denn nun geht hoffentlich auch eine Ära zu Ende.
Fortsetzung folgt.
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