Die Worte der Frauen

#metoo

In den ersten Debatten, die sich an den Enthüllungen über Weinsteins Schandtaten entzünden, vermisste ich die Vorsilbe »Un«. Anfangs war oft die Rede von einer Kultur der Komplizenschaft, des Schweigens, der Zustimmung und der Straflosigkeit. Auch ein anderer Begriff fiel, mit dessen Existenz ich mich noch immer nicht abfinden kann: rape culture.

Warum sollte ich? Das ist eine gedanken-, eine teilnahmslose Sprache. Allerdings missbraucht sie den Kulturbegriff nicht unbedingt. Vielmehr führt sie zu den agrarischen Wurzeln des Wortes zurück: Sie meint einen Nährboden. Weinstein hat seine Machtposition über Jahrzehnte so ausgebaut wie ein Bauer, der seinen Acker bestellt. Er hat, um für einen Moment bei dem Bild zu bleiben, auch politische Landschaftspflege betrieben, mit Wahlkampfspenden an die Demokraten, also die »richtige« Seite, sowie an den Bezirksstaatsanwalt von New York, der vor zwei Jahren aussichtsreiche Ermittlungen gegen ihn stoppte.

Erfolgreiche Produzenten sind stets auch Opportunisten: Sie wittern Gelegenheiten. Ich vermute, diesem Instinkt folgten auch seine sexuellen Übergriffe. Er übte seine Macht erpresserisch aus. Er agierte in der schamlosen Gewissheit, sie missbrauchen zu können. Womöglich lag darin der größere Kitzel für ihn. Dass er sich nun selbst eine Reha für Sexsüchtige verordnete, ist ein durchschaubares Entlastungsmanöver. Damit kann er sich selbst zum Opfer erklären. Falls er süchtig sein sollte, dann wohl eher nach Macht und deren Missbrauch. Glücklicherweise verfing seine reuelose Besserungsreklame nicht. Einen zweiten Atem wünscht man ihm nicht.

Während Harvey Weinstein in irgendeiner Luxusklinik seine Therapiesitzungen schwänzt und behauptet, das Ganze sei nur eine Kampagne seines Bruders Bob, ist die Öffentlichkeit schon einen Schritt weiter. Matt Damon und George Clooney, deren Karrieren eng mit Weinsteins Imperium verbunden sind, sprechen gar von einer Wasserscheide im gesellschaftlichen Umgang mit Geschlechtergewalt. Bis es soweit ist, muss sich die Gesellschaft erst einmal Rechenschaft ablegen über ihr Versagen, den Opfern zu glauben.

Was wir in den letzten Wochen mitverfolgt haben, ist in vieler Hinsicht erstaunlich. Es ist auch ermutigend. Mit wenigen Ausnahmen (Asia Argento war in Italien bizarren Vorwürfen ausgesetzt, namentlich der hochklassigen Prostitution ihres Berufsstandes) mussten sich die Opfer nicht selbst rechtfertigen. Die Richtigkeit ihrer Anschuldigungen wurde nur selten in Zweifel gezogen. Das war bisher anders. Auch ihr oft Jahrzehnte währendes Zögern, an die Öffentlichkeit zu treten, wurde kaum diskreditiert und entlastete den mutmaßlichen Täter nicht. 16, 17 Staffeln der Serie »Law and Order: Special Victims Unit« haben uns gelehrt, wie nachhaltig und lähmend die Scham und Hilflosigkeit von Opfern sexueller Gewalt wirken können. Sie sind stets in Beweisnot und die Gegenseite kann sich immer die besten Anwälte leisten.

Einer der Gründe, weshalb ich so große Achtung für den Beruf des Schauspielers hege, liegt darin, dass er Verletzbarkeit mit sich bringt. Schauspieler zeigen sich, offenbaren sich in ihren Rollen. Wir lernen sie in Situationen großer Intimität kennen, zuweilen auch in buchstäblicher Nacktheit (Schauspielerinnen häufiger als ihre männlichen Kollegen). Daraus kann eine einseitige Nähe entstehen: In gewisser Weise gehören sie uns. Dem Beruf wohnt Missverständlichkeit inne, denn was wir sehen, ist nicht nur ihre eigene Haut, sondern die ihrer Figuren. Ein erwachsener, aufgeklärter Zuschauer kann in der Regel zwischen Illusion und Realität unterscheiden. Er weiß, dass man sich im Spielen auch verbergen kann. Die Schauspielerinnen, die nun ihre Stimme erhoben haben, machen auch ihr Recht am eigenen Körper geltend.

Prozesse gesellschaftlichen Wandels werden in den USA gern an bestimmten Ereignissen und Personen festgemacht. Darin steckt oft eine einhegende Reduzierung komplexer Vorgänge. Natürlich sind Tragweite und Ausstrahlung dieses Skandals auch der Berühmtheit der Beteiligten geschuldet. Aber die Frauen, die Weinstein der sexuellen Nötigung, des Missbrauchs und gar der Vergewaltigung bezichtigen, sind nicht grundlos berühmt. Viele von ihnen sind anerkannte Künstlerinnen, die großen Respekt genießen. Sie sind glaubwürdig nicht nur in ihren Leinwandauftritten. Sie haben entschieden, dass ihr Beruf kein Spielfeld der Ohnmacht sein muss. Ihr Wort hat Gewicht, und es befreit nicht nur sie selbst.

Vor ein paar Tagen hörte ich in den Nachrichten einen CDU-Politiker, die Diskussion über sexuelle Gewalt könnte gar nicht laut genug geführt werden. Er irrt sich, denn Lautstärke war die Domäne Weinsteins. Aber vielleicht erleben wir momentan ja tatsächlich mit, wie eine Kultur der Selbstermächtigung entsteht. Sie braucht einen Nährboden. Sie könnte aber auch den anderen Bedeutungsebenen dieses Begriffs wieder Geltung verschaffen: Gestaltung, Verfeinerung, Höherentwicklung. Das ist ein Weg steiniger Hoffnungen. Die Ächtung allein reicht nicht aus, obwohl auch sie ein mächtiges Instrument ist. Weinsteins Gebaren hat nicht nur die Sitten verletzt. Wenn sich die Anschuldigungen bewahrheiten, hat er gegen Gesetze verstoßen. Selbst wenn eventuell Verjährungsfristen abgelaufen sind, sollten die Vergehen zur Anzeige gebracht werden. Das ist eine Akt, der für sich schon heilsam sein kann.

In London, Los Angeles und New York haben die Behörden inzwischen ihre Ermittlungen aufgenommen. An diesen Orten existierten bis vor einiger Zeit noch unterschiedliche Verjährungsfristen für Vergewaltigungen. So weit ich weiß, folgt die Gesetzgebung in den beiden US-Bundesstaaten, offenbar in Folge des Skandals um Bill Cosby, nun aber ebenfalls der britischen Rechtsauffassung. Dort ist die Strafverfolgung einer Vergewaltigung an keine Frist gebunden. Sie kann jederzeit, auch noch nach vielen Jahrzehnten, zu einer Verurteilung führen. Das ist eine Form von Abschluss, den Weinsteins Opfer erleben sollten. 

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