Einiges Russland
Ich hatte erwartet, der Film würde größeren Widerstand leisten. Insgeheim hatte ich gehofft, er würde der Musik erst nach heftigerer Gegenwehr das Feld überlassen. Es war gewiss naiv, dies anzunehmen. Und im Gegenzug ist es womöglich ein Fehler, sie überhaupt in Opposition zueinander zu bringen. Auf jeden Fall widerspricht es der Orthodoxie.
Denn üblicherweise wird die Zusammenarbeit von Sergej Eisenstein und Sergej Prokofjew als eine innige, unauflösbare Allianz geschildert, bei der die Arbeit des Regisseurs und die des Komponisten mustergültig ineinandergreifen. Aber warum sollte dies eine unumstößliche Prämisse sein? Und da ich Ihnen von einer Live-Aufführung berichten will, erscheint es mir ertragreicher, nicht das Bekannte zu bestätigen, sondern sich von ihm überraschen zu lassen. Der Abend, den ich im Konzerthaus Berlin verbrachte, lehrte mich jedenfalls, dass diese Einheit das Resultat eines erbitterten Ringens sein kann. Am letzten Wochenende wurden im Rahmen des Musikfestes Berlin die zwei Teile von »Iwan der Schreckliche« aufgeführt. Prokofjews Partitur wurde dazu live eingespielt vom Rundfunksinfonieorchester Berlin unter dem Dirigat des ausgewiesenen Filmmusikkenners Frank Strobel, dem Rundfunkchor sowie mehreren Gesangssolisten. Es war ein veritabler Kraftakt, der an diesem Abend von allen Beteiligten verlangt wurde.
Für mich war es insofern ein Novum, da ich schon häufiger Stummfilme mit Live-Begleitung gesehen habe, aber noch nie einen Tonfilm. Diese Aufführungsform macht seit geraumer Zeit Furore. Filme wie »Gladiator« oder »Der Pate« gehen auf diese Weise sogar auf Tournee. Im letzten Jahr wurde in Frankfurt »Vertigo« live aufgeführt, was den Kritiken nach ein gelungenes Experiment gewesen sein muss. Ein Freund berichtete mir, dass in London sogar »Frühstück bei Tiffany« so vorgeführt wurde. Die New Yorker Philharmoniker brachten am letzten Wochenende »Manhattan« und »West Side Story« so auf die Bühne, was besonders interessant gewesen sein muss, weil dieser Klangkörper bereits 1979 die Gershwin-Musik für Woody Allens Film eingespielt hat und einige der damaligen Musiker auch diesmal wieder mit von der Partie waren. Im Gegensatz zu Stummfilmen, die in der Regel von einer durchkomponierten Musik begleitet werden, setzt eine Tonfilmmusik selbstredend zwischendurch auch aus. Ich vermute, das verlangt von Dirigent und Orchester eine ebenso andauernde, aber zugleich auch punktuell notwendig geschärfte Wachsamkeit.
Wie dem Auftakt dieses Textes zu entnehmen ist, ging ich voller Spannung und mit einer gewissen Skepsis an den Abend heran. Besonders beschäftigte mich natürlich die Frage, ob und wie sich die Dialoge gegen das Klangvolumen der Musik behaupten würden. Tatsächlich waren sie eingangs kaum zu hören. Das störte das Publikum in meiner Umgebung offenbar wenig, zumal es deutsche Untertitel gibt. Deren charakteristische Gelbton wies schon daraufhin, dass eine Aufzeichnung des Konzerts demnächst auf arte gesendet wird (genauer gesagt am 7. November, und nein, ich werde von denen immer noch nicht für meine Programmhinweise bezahlt) und es ist anzunehmen, dass die Lautstärken für die TV-Ausstrahlung anders gemischt werden werden. Zugleich ist nicht zu befürchten, dass Prokofjews Arbeit dabei zu der »unsichtbaren Kunst« zurückgestuft wird, als die man Filmmusik gern bezeichnet. Vor ein paar Tagen stieß ich auf ein Zitat seines US-Kollegen Aaron Copland, der ebenso wie er im Konzertsaal und den Filmstudios gleichermaßen heimisch war. »Die Filmmusik«, schrieb er, »ist eine kleine Lampe, die unter die Leinwand gestellt wird, um sie zu wärmen.« Prokofjews Partitur indes entfacht eher einen Feuerbrand.
Den Begriff Konzert habe ich vorhin also bewusst gewählt. Von meinem Platz im Rang hatte ich ohnehin freiere Sicht auf das Orchester, der Blick auf die Leinwand wurde verdrießlich von einer Säule behindert. Und dass ein solcher Abend stets eine Frage der Perspektive ist, wurde mir zusätzlich durch ein Gespräch mit meiner Nachbarin klar, die sich als Mitarbeiterin des Rundfunkchors entpuppte. Sie ist dort für organisatorische Fragen zuständig und verfolgte die Arbeit ihrer Kollegen naturgemäß mit besonders gesteigerter Aufmerksamkeit. Sie berichtete von den Proben zur heutigen Aufführung, insbesondere von Frank Strobels akribischer Recherche: Die fertige Filmmusik unterscheidet sich stark von der Partitur, ist das Ergebnis ständiger Nachbesserungen von Komponist und Regisseur. Sie müssen sich in der Tat erstaunlich eng miteinander abgestimmt haben. Eisenstein montierte einige Passagen neu unter dem Eindruck von Prokofjews Musik, im Gegenzug passte der Komponist Linien und Motorik seiner Komposition ständig dessen Bilderfolgen an. Der Rundfunkchor hatte »Iwan der Schreckliche« auch schon einmal als Oratorium aufgeführt, berichtete meine Nachbarin mir, das sich enorm von der Filmfassung unterschied. Im Konzertsaal führt Prokofjews Werk also durchaus ein eigenständiges Leben.
Meine Erinnerung an Eisensteins Film war nicht unbedingt lebhaft. Seit ich ihn vor einigen Jahrzehnten im Fernsehen sah, ist mir vor allem eine drückende, verstörende Stimmung im Gedächtnis geblieben. Einige Momente hingegen konnte ich nicht vergessen, etwa eine kurze Einstellung aus der Rückblende, die Iwan im Kindesalter auf dem Fürstenthron zeigt und in der die kurzen Beine des Jungen den Boden nicht erreichen können. Es ist vielleicht bezeichnend, wenn einem unwesentliche Momente erinnerlicher sind als die zentralen Bewegungen. Geheuer war mir der Film nie. Dass einige Passagen des zweiten Teils in Farbe gedreht wurden, hat mich auch diesmal wieder überrascht.
Als eine Verherrlichung des Gewaltherrschers Iwan will mir der Film auch heute nicht erscheinen. Zur Identifikation lädt er nur gelegentlich ein; allenfalls in seinen Momenten der Verletzbarkeit und Verzweiflung. Es fällt mir schwer, in diesem Pandämonium der Macht und des Verrats etwas zu erkennen, was sich als heroisch deuten ließe. Der Zweck, der die Mittel heiligt, ist ein schales Schauspiel. Selten öffnet sich der Film für Außenspielplätze, die Errichtung des Gehäuses Russland, seine Expansion und Abgrenzung (was angesichts des heutigen neoautoritären Staates natürlich von aktuellem geopolitischem Belang ist), ist eine ziemlich klaustrophische Seherfahrung. Weshalb der erste Teil Stalins Segen erhielt, er den zweiten aber vehement ablehnte, leuchtet mir nur insofern ein, als die Fortsetzung durchaus eine Verfallsgeschichte erzählt. Eisensteins Unberechenbarkeit scheint mir auch im ersten weniger eine ideologische, als eine stilistische Kategorie zu ein. Er nimmt einfach zu viel Groteskes in den Blick, als dass sich der Film dienstbar machen ließe. Hier kommt wieder die Atmosphäre ins Spiel, die mir erinnerlich blieb. Sie entsteht zu einem Gutteil aus den Bildern: den bizarren Großaufnahmen, in denen die übersteigert ausdrucksvolle Gesichter dominieren; den Halbnahen und Halbtotalen, in denen sich die Körper so weit verbiegen müssen, bis sie zu grafischen Elementen werden.
An diesem agilen Schillern zwischen Gestus und Thema hat Prokofjews Musik entscheidenden Anteil. Sie treibt den Film voran, klingt mal düster, mal hell, ist anspielungsreich, auch spöttisch. Sie fasst tiefe Wurzeln und reißt sie zuweilen auch heraus. Weder verdoppelt sie, was man sieht, noch fungiert sie eindeutig als Kontrapunkt. Vielmehr schmiegt sie sich auf vertrackte Weise dem Film an. Anstatt der Dramaturgie der Szenen zu folgen, reagiert sie auf Eisensteins Inszenierung. Seine Montage ist ja entschieden diskontinuierlich. Wo sich die Folge der Bilder nicht zu einer fließenden Bewegung verstehen will (und auch der Ton nicht synchron sein muss), kann auch die Melodik brüsk abbrechen. Prokefjews Musik ist unabhängig, ohne sich zu lösen. Sie passt.
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