Ein Familientreffen
Als Geste der Höflichkeit war es vielleicht etwas übertrieben, als Indiz ihrer Freundlichkeit jedoch erschien es mir glaubhaft: Gleich mehrmals, sofort, zwischendrin und zum Abschied, bedankten sich die Brüder Dardenne für das kleine Mitbringsel, das ich ihnen bei unserem Interview in der letzten Woche gab.
Es handelte sich um nichts weiter als das Faltblatt mit dem Programm einer Tagung (»Genauigkeit und Empathie – Das soziale Kino der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne«), die sich am ersten Novemberwochenende in der Evangelischen Akademie Hofgeismar mit ihrem Werk beschäftigte. Augenscheinlich machte es ihnen eine große Freude. Sie wollten genau wissen, worüber dort gesprochen wurde, was für Leute daran teilnahmen und wie sie reagierten. Diese Aufmerksamkeit bestätigte mir, was sie in Interviews betonen: dass sie immer an die Zuschauer denken, wenn sie Filme machen.
Gewiss, Jean-Pierre und Luc Dardenne sind auch Charmeure, sie können in Gesprächen gewinnend für ihre Filme einstehen. Aber zu diesem Charme gehört, dass sie sich ihrem Gegenüber mit Neugier nähern. Mir blieb nicht viel Zeit, um ihnen ausführlich von der Tagung zu berichten. Die Teilnehmer waren meist schon in fortgeschrittenem Alter, einige seit Jahren Stammgäste der Akademie; viele kannten bereits den ein oder anderen Film der Belgier, alle waren entdeckungsfreudig. Es waren auch Psychologen darunter? hakte Jean-Pierre Dardenne nach – in einer französischen Fachzeitschrift hätte er Dinge über ihr Kino erfahren, die ihm und seinem Bruder bis dahin nicht bewusst waren. Luc Dardenne wiederum vergnügte es, dass einige Zuschauer sich ein Bild machen wollten von der Topographie ihrer Heimatstadt Seraing, nachdem sie, von Film zu Film, bestimmte Drehorte wiedererkannt hatten: Man hätte einen Stadtplan mitbringen sollen, um zu überprüfen, wo genau Val Potet oder Bergerie liegen! Und eine Teilnehmerin habe tatsächlich gesagt, sie fände den Anfang von »Rosetta« schwer erträglich? Ja, bestätigte ich, das sei ein vielversprechender Auftakt gewesen, weil er das Spannungsfeld aufmacht, in dem ihre Filme agieren.
Es war ein lebendiges, ertragreiches Wochenende. Karl Prümm, mein erster Filmprofessor in Berlin, hatte sie gemeinsam mit Kerstin Vogt, der Studienleiterin in Hofgeismar konzipiert. Seine Vorträge (eine Werkeinführung und eine Analyse von »Zwei Tage, eine Nacht«) sowie der von Mariella Schütz (über »Das Kind«) waren für mich ungeheuer erhellend. Ich muss gestehen, nicht nur den Untertitel der Veranstaltung, sondern auch viele Gedanken habe ich schamlos gestohlen, als ich das Manuskript für eine Radiosendung zum Start von »Das unbekannte Mädchen« vorbereitete. Am stärksten jedoch sind mir die Reaktionen der Teilnehmer im Gedächtnis geblieben. Die andere Seite nimmt man ja oft genug in den Blick, dies hingegen ist endlich ein Anlass für ein Lob des Publikums.
Es war nicht ausgesprochen cinéphil, aber ungemein kundig – übrigens auch im Sinne einer Ortskundigkeit, denn ein Aachener konnte uns anschaulich vom ökonomischen Niedergang Seraings berichten, dem Ursprungsort des Kinos der Dardenne-Brüder. Eindrücklich im Gedächtnis ist mir beispielsweise die Ansicht einer Dame (es war dieselbe, die der Anfang von »Rosetta« erschüttert hatte), man würde die Filme ihrer Lebendigkeit berauben, wenn man sie auf eine Interpretation festlege. Das betrifft im Kern die Arbeit des Filmkritikers. Ein Herr zog ergriffen Parallelen zwischen der männlichen Hauptfigur in »Das Kind« und dem Accatone Pasolinis: »Eine andere Welt, eine andere Generation, und dennoch hat sich nichts geändert.«
Die Anwesenden waren bereit, sich auf die ästhetische Strenge dieses Kinos einzulassen, weil sie brennend interessiert waren an den ethischen Fragen, die die Belgier an die Gesellschaft stellen. Sodann wollten sie die Gültigkeit ihrer Befunde überprüfen. Das geschah nicht mit jener Abgeklärtheit, die einen Gutteil der Kritiken zu ihrem neuen Film bestimmt, sondern aus einer Bereitschaft zur Einfühlung in die existenziellen Problemen, die ihr Kino aufzeigt. In dieser Atmosphäre spürte ich als einer der Vortragenden eine besondere Verantwortung: nicht allein den Filmen, sondern dem sensiblen Bündnis gegenüber, das sie mit dem Zuschauer eingehen können.
Ich konnte nicht mehr geschützt durch das Selbstverständnis des Kritikers an sie herangehen. Dieser Resonanzraum erlaubte es mir, zu einem Zuschauer unter anderen zu werden. Ich war in guter Gesellschaft. Ich denke da etwa an eine Dame, die in der dritten Reihe saß und die atemlose Verzweiflung in »Der Junge mit dem Fahrrad« benannte, die auf den ersten Blick gar nicht mit dem optimistischen Ausgang vereinbar schien. Sie hatte auch weit aufmerksamer die Farbakzente in »Der Junge mit dem Fahrrad« betrachtet, als ich es in meinem Vortrag tat. Oder an den Herren in der letzten Reihe, der feststellte, dass mit dem Einsatz der Musik im Film ein neues Kapitel beginnt und sie am Ende wie eine Auferstehungsmusik erklingt. Einem anderen Teilnehmer war das Anrennen gegen Mauern und Wände aufgefallen, das bereits in »Das Kind« eine zentrale Rolle spielte. Die existenzielle Situation des Wartens, die das Leben vieler Dardenne-Figur bestimmt, beeindruckte einen weiteren Zuschauer zutiefst. Karl Prümm, der viele von ihnen aus früheren Veranstaltungen kannte, nannte diese Gemeinschaft eine Familie. Das ist nicht der schlechteste Rahmen, um über das Kino der belgischen Brüder zu diskutieren.
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