Die Rücksichtslosigkeit des Schicksals

Im Frühling 1936 kam es am Ufer der Marne zu einem denkwürdigen Streit. Charles Vanel, einer der Hauptdarsteller des Films, der hier entstand, verweigerte die Arbeit. Als guter Katholik wollte er nicht am Ostermontag drehen. Seinem Regisseur Julien Duvivier hingegen war der Feiertag nicht heilig. Der Krach muss ebenso heftig gewesen sein wie die Zwistigkeiten zwischen Don Camillo und Peppone (allerdings bestimmt weniger ulkig), den Helden von Duviviers berühmtestem Film. Aber diesmal setzte sich der Atheist durch.

Seinen Ruf als großer Schauspielerregisseur hatte Duvivier nicht, weil er besonders nett oder zuvorkommend war. Er konnte ein strenger Zuchtmeister sein. Auch seinem Publikum schmeichelte er nicht. Über die menschliche Natur machte er sich wenig Illusionen. In seinem Kosmos scheint die Macht des Bösen, der Dummheit, Lüge und Gier unangefochten zu herrschen. Seine Filme sind mit allen Wassern des Pessimismus gewaschen. Sie präsentieren eine schillernde Galerie der Gestrauchelten, die von den Verhältnissen korrumpiert und vom Schicksal aus ihrem Leben herausgeschleudert werden. Duviviers filmische Neugierde gilt den bescholtenen Bürgern, den anfechtbaren Proletariern und lauter Verführerinnen, deren Ranküne den Männern gar nicht guttun.

So ist der Name des Feinschmeckerrestaurants, das Jean Gabin in »Der Engel, der ein Teufel war« im Viertel der Pariser Markthallen betreibt, böse Ironie: »Le Rendezvous des innocents«. Unschuldige sind dünn gesät in diesem Meisterwerk des französischen Polar, mit dem arte heute Abend eine kleine Werkschau des Regisseurs beginnt. Der Originaltitel »Voici le temps des assasins« (Die Zeit der Mörder bricht an, ein Rimbaud-Zitat), kündigt noch vollmundiger von Verheerung. Indes ist es spannend und ertragreich, in den drei anderen Klassikern, die am Mittwoch sowie am kommenden Montag ausgestrahlt werden (nebst diversen Wiederholungen), nach Bodensätzen der Unschuld zu suchen. »Marie Octobre« mit der sublimen Danielle Darrieux scheint diese Hoffnung erst einmal zu dementieren: 15 Jahre nach der Befreiung von Paris treffen sich Mitglieder einer ehemaligen Widerstandsgruppe wieder, in deren Reihen es einen Verräter gibt. Jeder in ihrem Kreis ist verdächtig - und ist es zu Recht.

Dieser Befund verträgt sich auf den ersten Blick wenig mit der Heiterkeit seiner Don-Camillo-Komödien. Aber bei Duvivier muss man auf Überraschungen gefasst sein. Der Regisseur war ein vielseitiger, übrigens auch kosmopolitischer (er drehte u.a. in Deutschland, Marokko, den USA, England, Italien und der Schweiz) Stilist. Als ein Auteur verstand er sich nicht, wenngleich er meist eng an den Drehbüchern mitarbeitete. Die Kritiker der "Cahiers du cinéma" hätten ihn deshalb gern aus der Ruhmeshalle der französischen Filmgeschichte aussortiert. Zudem war er der große Antipode ihres Säulenheiligen Jean Renoir. Mittlerweile weist aber dessen Reputation als großzügiger Humanist üble Flecken auf (neue Biografien werfen Schlaglichter auf eine antisemitische Episode), weshalb die Zeichen für eine Rehabilitation des vermeintlichen Misanthropen Duvivier nicht schlecht stehen.

Der Vergleich mit Renoir bietet sich als vielen Gründen an. »Zünfige Bande« ist der ungleiche Bruder von dessen »Das Verbrechen des Monsieur Lange«. Beide greifen 1936 die Aufbruchstimmung der Volksfront auf. Zeitweilig spielte Renoir sogar mit der Idee, das Drehbuch zu »Zünftige Bande« zu verfilmen. Wäre das der politisch engagiertere Film geworden? Gut möglich. Aber auch bei Duvivier gibt es einen Trinkspruch auf die Liebe und auf Léon Gambetta, den Mitgründer der Dritten Republik. Er drehte das, was einer Filme über die gesellschaftliche Atmosphäre nannte. In die »Zünftige Bande« gewinnen fünf Freunde in der nationalen Lotterie und wollen das Geld in ein gemeinsames Projekt stecken, die Eröffnung eines Ausflugslokals an der Marne. Die Idee ist getragen von Gemeinschaftssinn und Solidarität, ihre Verwirklichung wird aber von Eifersucht, der Deportation eines Mitglieds der Bande sowie weiterer Unbill verhindert. (Das Schicksal ist immer ziemlich einfallsreich bei Duvivier.) Die Utopie von Gemeinschaft scheint bei Renoir lebbarer. Seinem Kinos wird gern luftige Offenheit zugeschrieben, Duviviers hingegen gilt als düster und stickig. Wenn Sie den Film am nächsten Montag sehen sollten, werden Sie bemerken, dass diese Rechnung nicht ganz aufgeht. Sie werden auch sehen, dass seine Inszenierung virtuoser, akrobatischer, eleganter ist. Während Renoir das Leben gewissermaßen gewähren lässt, spürt Duvivier unerbittlich dem Verhängnis nach.

Das Scheitern erfüllt ihn nicht mit Genugtuung. Der Schmerz ist spürbar. Seine Vision ist nicht verächtlich, sondern tragisch. Die Euphorie über den Lottogewinn, die unter Jean Gabins Mitbewohnern im Hotel ausbricht, kennt keinen Neid. Die Freude will geteilt werden, das Hoffen auf ein Gelingen ist aufrichtig. Duvivier ist ein großer Porträtist von Gruppen, ihres Zusammenhalt, aber auch ihres Zerbrechens. Als einen Meister der Vielstimmigkeit konnte ich ihn neuerlich im Frühjahr in Paris entdecken, als einige seiner Filme neu herauskamen. Pathé hat sie aufwändig in 4k-Qualität restauriert. Die größte Überraschung bescherte mir „Lebensabend“ von 1939, der den Abschluss der Werkschau bildet. Mein Gastgeber Binh hatte ihn mir glühend empfohlen, er pries besonders die Darstellung Michel Simons; ich fand Louis Jouvet und Victor Francen allerdings ebenso gut. Der Film spielt in einem Altersheim für Schauspieler. Dort zehren sie von einstigem Ruhm und auch von Lebenslügen. Wiederum tritt Zwietracht auf den Plan. Aber als die Existenz des Refugiums bedroht ist, rauft man sich zusammen. Eine zünftige Bande im Seniorenalter! Bei der Szene, in der ein Schauspielerpaar nach Jahrzehnten des Zusammenlebens heiraten will, blieb im Kino kein Auge trocken. Man muss Duvivier nicht gegen seinen Ruf als Menschenfeind in Schutz nehmen. Seine Filme tun das überzeugend genug.

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