Das globale Herz
Zum ersten Mal fiel mir dieser Ritus vor 20 Jahren in »Davor und danach« mit Liam Neeson und Meryl Streep auf. Ihr Sohn steht in Verdacht, seine Freundin ermordet zu haben. An der Stelle, an der ihre Leiche gefunden wurde (ich glaube, am Zaun einer Weide), haben die Bewohner des Ortes Blumen niedergelegt. Vielleicht, das habe ich nicht mehr genau vor Augen, haben sie auch einige Kerzen entzündet.
Zweifellos wird dies in den USA schon lange gebräuchlich gewesen sein und sich dementsprechend bereits in früheren Filmen niedergeschlagen haben. Vielleicht dachte ich damals sogar, dies sei eine jener alltäglichen Beobachtungen, die einem Fremden eher auffallen als einem Einheimischen: Der Regisseur Barbet Schroeder ist immerhin ein Franzose und dies sein erster US-Film der auf dem Land spielt. Auf jeden Fall hat mich diese Darbietung kollektiver Trauer damals beeindruckt; vielleicht nicht einmal positiv.
Seither ist sie ein vertrautes Kino- und Nachrichtenbild geworden. Das berührendste Beispiel ist natürlich die Szene in »The Queen«, wo Helen Mirren das Blumenmeer inspiziert, das nach dem Tod von Lady Di am Buckingham Palace niedergelegt wurde. Ein kleines Mädchen streckt ihr einen Strauß entgegen, den sie zu den anderen legen will. Womöglich wird ihr erst bei dieser demütigen, zivilen Handreichung bewusst, wie unermesslich groß die Trauer ihrer Untertanen um die Schwiegertochter ist. Aber dann sagt das Mädchen zur Königin: »Nein, diese Blumen sind für Sie!«
Vor ein paar Tagen habe ich dieses Ritual zum ersten Mal selbst ausgeführt. Komisch, vorher habe ich es immer den anderen überlassen. Es hätte viele Gelegenheiten gegeben, nicht erst die Anschläge in Paris, Brüssel und Nizza, deren Opfern auch in Berlin gedacht wurde. Aber von dem, was heute vor einer Woche auf dem Breitscheidplatz passierte, konnte ich mich nicht distanzieren. Ich nahm es persönlich; ich wohne kaum einen Kilometer weit entfernt. Es war ein Angriff auf meine Nachbarschaft. Nun laufe ich Gefahr, wie Mark Wahlberg zu klingen, wenn er über Boston spricht. Tatsächlich musste ich nicht an »Patriot's Day« denken, sondern an einen anderen Boston-Film, Eastwoods Verfilmung von »Mystic River«, der mir oft vor Augen führte, wie stark konservative US-Filme von einer Moral der unmittelbaren Reichweite bestimmt werden.
Als ich am Dienstag Nachmittag einen kleinen Strauß am Rande des Weihnachtsmarktes niederlegte und die unzähligen Blumen und Kerzen betrachtete, merkte ich schnell, wie gut mir das tat. Es wurde deutlich, wie triftig diese Form des Trauerns ist: Beide Gaben stehen für Schönheit und Vergänglichkeit, das Leuchten der Kerzen und das Blühen sind belastbare Symbole für das Leben, an dem wir hängen. Vielleicht verdankte sich meine Geste auch einem sachten Schuldgefühl, weil weil ich am Abend zuvor erst gar nicht auf die Meldungen der Tragödie reagieren mochte. Ich zögerte, weil ich an einem Artikel saß, der dann doch ein paar Tage länger Zeit hatte. Das erschien mir nun wie eine Verantwortung, die ich ausgeschlagen hatte.
Den Morgen hatte ich damit verbracht, auf besorgte Emails von Freunden und Bekannten zu antworten. Mein Pariser Freund Max Tessier, ein großer Kenner des asiatischen Kinos, hatte mir noch in der Nacht geschrieben. Nun lebt er in Manila und berichtete mir, wie groß die Angst auf den Philippinen ist, dass einer der Tausenden von Schläfern des IS dort einen Anschlag verübt. Bertrand Tavernier, dem Berlin sehr, sehr viel bedeutet (sein erster Film »Der Uhrmacher von St. Paul« gewann hier den Silbernen Bären, weshalb er seine Produktionsfirma »Little Bear« taufte), kondolierte mir und allen anderen Bewohnern der Stadt. Mein treuer Pariser Gastgeber Binh schickte mir eine nature morte, das Stillleben eines Tabletts, das mich an unser freundschaftliches Ritual des trockenen Martinis erinnern sollte.
Den ausführlichsten Mailkontakt hatte ich mit Jonathan Anderson und Edwin Low, den Fotografen der Sets von »Spectre« (siehe den Eintrag »Das Vier-Augen-Komitee« vom 18. 10.), die die ganze Nacht über wach geblieben waren. Sie erzählten von der konstanten Angst vor Attentaten der IRA, mit der sie im London in den 70er und 80er aufgewachsen waren. Im November 2015 waren sie in einem Hotel in Paris abgestiegen, das in unmittelbarer Nachbarschaft eines der Cafés lag, das Ziele der Anschläge gewesen war. Sie schickten Fotos und einen Youtube-link mit Aufnahmen von trauernden Parisern. Die Botschaft, die sie an mich und alle Berliner richteten, lautet: Unsere Aufgabe besteht darin, das Leben in vollen Zügen zu leben. Gleichviel, ob die Mails in Französisch oder Englisch verfasst waren, sie alle sprachen davon, dass der Anschlag Berlin mitten ins Herz getroffen habe. Meine Betroffenheit der unmittelbaren Reichweite schlug um in eine, die international geteilt wird. Auch die Lieder, mit denen sich die Berliner in den letzten Tagen öffentlich Mut machten, sind es ebenfalls: »We are the World«, »Heal the World« und »Give Peace a chance«.
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