Schweizer Gründlichkeit
Das am morgigen Mittwoch beginnende Festival von Locarno macht sich selbst mächtig Konkurrenz. Der Wettbewerb kann zwar mit etablierten Namen und gewiss vielversprechenden Talenten glänzen. Aber der Besucher könnte in den kommenden zehn Tagen ein wunderbares Festival erleben, ohne auch nur einen einzigen aktuellen Film zu sehen.
Das Festival im Tessin ist einerseits berühmt für seine Retrospektiven, in denen im Lauf der Jahrzehnte einfallsreich Geschichts- und Gegengeschichtsschreibung betrieben wurde und die zu vielen bedeutenden Wiederentdeckungen führten. Andererseits mehren sich seit einiger Zeit dort die Preise, die für das Lebenswerk einzelner Künstler verliehen werden. Da werden nicht nur Ehrenleoparden vergeben, sondern immens viele weitere Preise ausgeschüttet Mitunter scheint es, als würden die Verdienste der Geehrten vom Geltungsdrang der auslobenden Sponsoren überschattet. In diesem Jahr werden beispielsweise Marco Bellocchio. Marlen Chuziev, Michael Cimino, Andy Garcia, der Cutter und Tondesigner Walter Murch, Edward Norton, Bulle Ogier und die Produktionsfirma von Takeshi Kitano ausgezeichnet. (Das alles sind gute Ideen, man fragt sich nur, wer noch fürs nächste Jahre übrig bleibt.) Es laufen zudem Filme der Jurymitglieder und eine kleine Reihe ist dem in Ontario geborenen Kameramann Alex Phillips gewidmet, der den größten Teil seiner rund 200 Titel umfassenden Filmographie in Mexiko fotografiert hat, wo er unter anderem mit Luis Bunuel, Roberto Gavaldón und anderen Meistern des Melodrams arbeitete. Diese erfreuliche filmhistorische Eskapade schmiegt sich gut der eigentlichen Retrospektive an, die dieses Jahr einem Regisseur gewidmet ist, für den das Land südlich des Rio Grande ebenfalls ein ziemlicher (und auch unziemlicher, wenn man es recht bedenkt) Fluchtpunkt war: Sam Pechinpah.
Der ist ja kein Unbekannter, da könnte man auf Anhieb größere Originalität und Entdeckerfreude einklagen. Es gibt wohl kaum einen US-Regisseur seiner Generation, dessen Werk so viele Interpretationen auf den Plan und so viele Buchpublikationen hervorgebracht hat. Niemand sonst besitzt einen derartigen Kultstatus unter Western- und Action-Fans genießt. Aber andererseits scheint die Bewunderung für den trinkfesten Richterssohn aus Kalifornien doch ein wenig aus der Zeit zu fallen. Das Unzeitgemäße war natürlich immer eine thematische Kategorie seines Kinos, das bevölkert wird von Helden, die sich überlebt haben. "We got to think beyond our guns", sagt William Holden in »The Wild Bunch« - was in der deutschen Synchronfassung nicht übel mit "Wir müssen weiter denken als unsere Pistolen schießen" übersetzt wurde. Und es gibt kaum einen besseren Ort als Locarno, um die Tragfähigkeit eines Kinomythos' zu überprüfen.
Für das Schweizer Publikum ist er vielleicht tatsächlich eine Neuentdeckung. Ich erinnere mich jedenfalls gut daran, wie mich der Redakteur einer Züricher Tageszeitung einen Tag nach Erscheinen eines Artikels anrief, den ich 1998 anlässlich einer Retrospektive im dortigen Filmpodium geschrieben hatte. Er berichtete mir von der Redaktionskonferenz, in der meine Hommage auf einige Irritation gestoßen war. Offenbar musste man ihn 14 Jahre nach seinem Tod bereits als einen Unbekannten betrachten. In der Redaktion hatte man sich gewünscht, ich hätte ihn ausführlicher vorgestellt, historisch eingeordnet und keinen Artikel geschrieben, der eine gewisse Kenntnis seines Werks voraussetzte. Diese Rückmeldung war mir eine Lehre, ich war für die Kritik sehr dankbar, denn man weiß viel zu selten, für wen man schreibt und welchen Wissenstand man voraussetzen darf. Beim nächsten Auftrag aus Zürich war ich auf der Hut, da ging es um eine Robert-Aldrich-Retrospektive, und ich bemühte mich darzustellen, weshalb der einst unter Cinéphilen so hoch gehandelt wurde und was uns seine Filme heute noch sagen könnten.
In dieser Hinsicht ist Peckinpah kein einfacher Fall. Man denke nur an sein Frauenbild., mit dem nicht nur Feministinnen hadern. Und eigentlich an sein Menschenbild insgesamt, denn er schildert die Geschichte des amerikanischen Westens als Fortschreibung der Naturgeschichte. Wer weiß, wie viele Peckinpah-Filme der Romancier Cormac McCarthy gesehen hat, bevor er seine blutrünstigen Neo-Western verfasste? Ich selbst hatte stets wohlwollende Schwierigkeiten mit ihm, im Gegensatz zu meinem alten Schulfreund Heiko, mit dem gemeinsam ich viele seiner Filme zum ersten Mal sah und der in der Folge tiefer in Pechinpahs filmischen Kosmos eintauchte als jeder andere Filmliebhaber, den ich kenne. Aber selbst Heiko, der alles gesehen hat, was von und über Peckinpah auf DVD veröffentlicht wurde oder im Netz zu sehen ist, würde in Locarno viel Neues entdecken. Dort sind nicht nur sämtliche seiner Regiearbeiten zu sehen, sondern auch Kinofilme, an denen er als Regieassistent mitwirkte (»Invasion of the Body Snatchers« von Don Siegel), zu denen er das Drehbuch schrieb (»The Glory Guys«), die ihm von den Produzenten entrissen wurden (»Cincinnati Kid«, den dann Norman Jewison drehte) oder deren Regie er übernahm, obwohl er eigentlich für den zweiten Stab zuständig war (»Jinxed«, wiederum von Siegel). Auch seine Drehbuch- und Regiearbeiten für TV-Serien wie »The Rifleman« und »The Westerner« laufen in Locarno, ebenso wie ein Studentenfilm, von dem ich bislang noch nie gehört habe. Ich vermute, in dieser Gründlichkeit wurde Peckinpahs Oeuvre noch an keinem anderen Ort gewürdigt und nehme stark an, dass der Katalog zur Retrospektive das Niveau der Forschungsarbeit halten wird, die in Locarno traditionell betrieben wird.
Peckinpah war ein Rebell, ein Revisionist, der sich dennoch als Teil einer Überlieferungstradition begriff, die im Western zuvor von John Ford, Raoul Walsh und anderen begründet wurde. Von »Sacramento« (1962) an hinterfragte er die klassischen Mythen Amerikas im Licht der 60er und 70er Jahre - den Zuschauer von »The Wild Bunch« wird es 1969 nicht schwergefallen sein, von dem gezeigten Massakern auf aktuelle Schreckensbilder aus Vietnam zu überblenden -. zugleich fühlte er sich auf einzigartige Weise in vergangene Epochen ein. Seine Kennerschaft des Alltagslebens im Westen verblüffte seine Kritiker ebenso wie seine Mitarbeiter. In seiner großen Zeit war er ein Zeitgenosse des New Hollywood, hatte mittelbar Teil an der Auf- und Umbruchstimmung, die bei Coppola, Penn und anderen zu spüren war.
Seine Filme handeln von Individualisten, die ihren Weg bis zum Ende gehen müssen. Sie sind Auslaufmodelle, gehorchen einen eigenen, instinktiven Ehrenkodex, ringen um Erlösung, werden heimgesucht von Schuld und Scheitern. Ihr Kampf ist meist eine Flucht vor der Verantwortung, Einzig bei ihren Eskapaden nach Mexiko lässt sich die Zeit noch still stellen, da erfüllen sich noch die alten Männerphantasien von Freiheit und verfügbarer Erotik. Wie schnell ihre Zeit verrinnt, zeigt sich spätestens in »Junior Bonner«, wo die Mythen des Westens zur Jahrmarkstattraktion degradiert sind. Während der Rodeoreiter Steve McQueen noch mit den mythischen acht Sekunden ringt, die er im Sattel bleiben muss, verdient sein Bruder schon Millionen mit Immobilien.
Seine Gewaltchoreographien, vorzugsweise in Zeitlupe gefilmt, testeten die Grenzen des Zeigbaren im US-Kino aus. In »Sierra Chariba« ist schon zu spüren, wie sehr ihn die Gewalt fasziniert und gleichzeitig verstört. Von »The Wild Bunch« an zeigt er ihren Ausbruch und ihre Verheerungen in ungekannter Detailfreude: Bei ihm sterben die Leute nicht einfach, ihre Körper werden zerstört. In »Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia« von 1974 herrscht eine geradezu burleske Vertrautheit mit dem Tod. Die Gewalt ist für ihn eine existenzielle Bedingung, ein Sinnbild, fast eine Summe der menschlichen Beziehungen. Die Kinder schon üben sie spielend in seinen Filmen ein. Anfang der 70er, nach »Wer Gewalt sät«, glaubte man, Peckinpah habe die Darstellung von Brutalität im Kino an ihren Endpunkt geführt. Tatsächlich war sein Kino stilbildend: Später sollte sich zeigen, dass es auch beim Zynismus noch Steigerungsformen gibt.
Merkwürdig, aber die Szene, die mich in seinem Werk am stärksten beeindruckt hat, kommt am Ende von »The Wild Bunch«. Vor dem letzten Blutbad gibt es einen Augenblick des Innehaltens. William Holden und seine Gefährten sind in die Höhle des Löwen vorgestoßen, um einen Freund aus den Fängen des mexikanischen Generals Mapache zu befreien.Umzingelt von Hunderten von Soldaten, erschießen sie den Kriegsherren. Danach jedoch herrscht eine kurze Feuerpause. Ihre Gegner sind verblüfft, vielleicht verlegen. Vermutlich habe ich Peckinpah in diesem Moment völlig missverstanden, aber vielleicht glaubte auch er für einen Sekundenbruchteil an die Abwendbarkeit der Katastrophe? Im Auge des Hurricane jedoch zielt Holden auf einen Offizier und besiegelt damit das Schicksal seiner Truppe. Peckinpahs Filme lehren den Zuschauer, sich in das Unvermeidliche einzustimmen.
Früher war die Legende des Regisseurs nicht ohne die Identifikation mit seinen Figuren zu haben. Er stellte sich gern als Rebell dar und noch lieber als Opfer von Produzentenwillkür und -dummheit. Sein raues Macho-Dasein schien die Weltsicht seiner Filme zu beglaubigen. Sie wirkten wie das kathartische Abbild seines Verhältnisses zur Gewalt und zu den Frauen. Glücklicherweise haben sie auch ihre profund lyrischen Momente, etwa in »Abgerechnet wird zum Schluss«. Das Tauschgeschäft zwischen Lebenswirklichkeit und Fiktion war wesentlich für den Kult um ihn verantwortlich. Diese Perspektive liegt heute weit hinter uns. Die Filme dürfen für sich stehen. Das kann Wohl und Wehe für sie bedeuten. Nach der Filmschau in Locarno werden wir schlauer sein.
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