Ein Thronfolger mit Erfahrung
Ich wollte auf Nummer sicher gehen, nur nichts dem Zufall überlassen, mich von keiner Zugverspätung aufhalten lassen und auch pünktlich die Metro erreichen. Wie es meist der Fall ist, wachte ich vor dem Wecker auf. Zuvor hatte ich mich im Internet davon überzeugt, dass ich nicht vor verschlossenen Türen stehen würde. Doch, tatsächlich, das Café de Flore in Saint Germain öffnet morgens bereits um halb Acht.
Diese Sorge war überflüssig, schließlich wollte ich einen erfahrenen Pariser treffen. Wir hatten keine Telefonnummern ausgetauscht, konnten uns nur auf unser Wort verlassen. Hätte mir das tragisch verpasste Rendezvous von Benoit Poelvoorde und Charlotte Gainsbourg in Benoit Jacquots 3 Herzen eine Warnung sein sollen? Nein, Pierre Lescure tauchte wirklich pünktlich zu unser Verabredung um 7:45 Uhr im ersten Stock des Cafés auf. Das Erdgeschoss war schon erstaunlich voll, aber hier oben waren wir ungestört.
Eigentlich waren wir einige Tage zuvor, am Karfreitag, verabredet gewesen. In Frankreich ist das kein Feiertag. Ich erschien sehr früh an seinem neuen Arbeitsplatz, dem Büro des Festivals von Cannes. Das gebot die Höflichkeit, die man einem viel beschäftigten Mann schuldig ist. Ich war erstaunt, wie diskret versteckt es in einer Seitenstraße im 7. Arrondissement liegt. Ich hatte es mir imposanter, größer vorgestellt. In Paris weiß man natürlich nie, was sich hinter den Fassaden verbirgt. Seine Assistentin begrüßte mich freundlich. Sie arbeitete schon für Gilles Jacob, Pierre Lescures Vorgänger im Amt des Festivalpräsidenten. Wir sprachen über Manoel de Oliveira, der am Vorabend gestorben und dem Festival eng verbunden war. Dann ließ sie mich allein; schließlich war ich zu früh dran. Der Kaffee schmeckte gut und das aufmunternde Lächeln der Empfangsdame verkürzte mir die Wartezeit.
Um 15.15 Uhr, dem Zeitpunkt des geplanten Treffens, kehrte die Assistentin zurück. Monsieur Lescure sei am Apparat und wolle mich sprechen. Ich erkannte seine sonore Stimme sofort. Auf der Website einer seiner vorherigen Wirkungsstätten, dem Théâtre Marigny, hatte ich einen kurzen Film gesehen, in dem er durch das prachtvolle Interieur führt. Pierre Lescure entschuldigte sich vielmals, er stecke noch mitten im Schnitt einer TV-Produktion, die er als Mentor einiger Praktikanten überwache. Als er erfuhr, dass ich nur seinetwegen nach Paris gereist sei, war er untröstlich. So erging es auch seiner Assistentin, denn sie fand partout keinen Alternativtermin. Meine Enttäuschung packte ihn bei seiner Journalistenehre. Nein, sagte er, das regeln wir unter uns. Wann ich denn nach Paris zurückkehrten würde? Am Dienstagabend nach Ostern. Den hatte er verplant, ließ sich aber nicht beirren. "Êtes-vous matinal?" fragte er. Ja, ich sei ein Morgenmensch. Aber ein echter Frühaufsteher? Unbedingt. Wie wäre es um Acht Uhr am Mittwoch morgen? Oder noch besser, eine Viertelstunde früher, dann hätte er noch mehr Zeit für mich? Ich hatte keinen Grund, nicht einverstanden zu sein. Für mich standen immerhin eine Radiosendung über ihn und die Veröffentlichung unseres Interviews in ein, zwei Tageszeitungen auf dem Spiel.
Mir scheint, Lescure ist ein geeigneter Nachfolger für Gilles Jacob. Er bringt seine eigene Legende mit. Seine Lebensgeschichte ist famos. Er wurde als Sohn eines Résistance-Kämpfers geboren, wuchs in einer Journalistenfamilie auf, tummelte sich im Radio und Fernsehen, moderierte Sendungen, die seither Kultstatus haben und gehörte 1983 zu den Gründern des Bezahlsenders Canal+, der eine essentielle Rolle bei der Finanzierung des französischen und europäischen Kinos der letzten drei Jahrzehnte spielt. Sieben Jahre lebte er mit Catherine Deneuve zusammen, mit Nathalie Baye nicht ganz so lang. Francois Hollande holt seinen Rat in Fragen des Medienrechts ein. Aber mir gab er das Gefühl, dass sich an diesem Morgen einfach zwei Journalisten gegenüber saßen, die das Kino lieben und ihren Beruf ernst nehmen.
Am Vorabend hatte er in einem meiner Pariser Lieblingskinos nahe des Pantheon als Überraschungsgast einen Film präsentiert. Als Vorprogramm zeigte er einige Ausschnitte aus Musikfilmen, die ihn in seiner Jugend geprägt hatten, darunter eine Nummer aus Jazz on a Summer's Day. Aus Howard Hawks' Haben und Nichthaben hatte er die Szene ausgewählt, in der Lauren Bacall und Hoagy Carmichael zusammen "Am I blue ?" singen - einen Song, der allerdings gar nicht von Carmichael stammt, wie er präzisierte, sondern von Harry Akst und Grant Clarke. Als Hauptfilm zeigte er Claude Sautets "Einige Tage mit mir", den er sehr unterschätzt fand. Ich war absolut seiner Meinung, Jean-Pierre Marielle sei phänomenal, alle anderen auch. Ich fügte hinzu, ich sei enttäuscht, dass Sautet und Auteuil danach nur noch einen Film gemacht hätten, Ein Herz im Winter. Ich hätte mir gewünscht, dass es nach diesen Meisterwerken noch weitergegangen wäre mit den Beiden. Ja, erwiderte Pierre Lescure, aber dafür hätte Sautet jünger sein müssen und Auteuil furchtloser. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je in meinem Leben einen aufregenderen Mittwochmorgen in Paris verbringen werde.
Wenn es Sie interessiert, was bei unserem Gespräch herauskam, schauen Sie mal in der "Welt" vom Montag nach. Oder, besser noch, hören Sie sich das Radiofeature über Pierre Lescure an, das am morgigen Himmelfahrtstag um 19:05 Uhr in der Sendereihe "Kulturtermin" auf rbb kulturradio läuft. Aber genug der Eigenwerbung. Eine der Änderungen, die er in Cannes vornehmen will, betrifft die Eröffnungsgala. Sie soll glamouröser werden. Der Fan alter Hollywood-Musicals will, dass es mehr Tanz- und Gesangsnummern gibt. Den Auftakt macht heute Abend eine Choreographie von Benjamin Millepied, der eine Passage aus Bernard Herrmanns Partitur zu Vertigo neu interpretiert. Als neuer Ballettchef der Pariser Oper hat Millepied bislang einen schweren Start gehabt; man betrachtet ihn eher als Leichtgewicht. Im Kino hingegen hat er sich, siehe Black Swan und seine Ehe mit Natalie Portman, bisher nicht schlecht geschlagen. Ihm und Lescure wünsche ich, dass der heutige Abend ein schöner Erfolg wird. Und der Filmwelt, dass Cannes 2015 ein guter Jahrgang wird.
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