Ein kurzes Jahrhundert
In seinem langen Leben hat er manchen Gemeinplatz Lügen gestraft und manches Sprichwort ausgehebelt. Wie wäre es beispielsweise damit: Einem alten Hund bringt man doch noch neue Tricks bei! Zumindest, wenn er Manoel de Oliveira hieß. In den letzten Wochen vor seinem Tod im vergangenen April hat er noch einmal eine neue Karriere als Werbefilmer begonnen.
Sein letzter Film ist im Auftrag der portugiesischen Elektrizitätskonzern EDP entstanden und heißt »Um seculo de energia«, was sich wohl mit »Ein Jahrhundert Energie« übersetzen ließe. Es ist kein Spot, sondern ein 15minütiger Kurzfilm, was seine Einsatzmöglichkeiten in der TV-Werbung ziemlich einschränkt. Ein Image-Film des Auftraggebers ist es auch nicht geworden, auch kein eigenwilliger Industriefilm wie Alain Resnais' »Le chant du styrène«. Der Elektrizitätskonzern tritt vielmehr als selbstloser Mäzen auf, denn auf YouTube kann man sich unschwer davon überzeugen, dass es ein waschechter de Oliveira-Film ist. Der Titel liegt nahe - der 106jährige Regisseur war schließlich ein vorzüglicher Zeuge dieses Jahrhunderts -, ist aber eine kleine, lässliche Hochstapelei. So weit reicht er gar nicht zurück, sondern interpretiert etwas neu, das der Regisseur schon einmal vor rund 80 Jahren gefilmt hat: die Eröffnung einer hydraulischen Anlage, mit der Strom gewonnen werden soll für die Fabrik seines Vaters.
»Um seculo de energia« ist keine melancholische, sondern lyrische Eskapade in die Vergangenheit, die das Einst und das Jetzt in einen stummen Dialog versetzt. In der ersten Einstellung ist ein Streichquartett (nicht ganz korrekt, ein Klarinettist gehört auch dazu) zu sehen, das ein Stück des Komponisten José de Castro spielt. Sodann schwenkt die Kamera zu einer Wand, auf die de Oliveiras Film »Hulha Branca« aus dem Jahr 1932 projiziert wird. Fortan stellt der Regisseur die damaligen Aufnahmen heutigen Impressionen gegenüber. Die Anlage und der Staudamm existieren noch, sind keine Ruinen. Von der Öffnung der Schleusen schneidet der Film auf ein Ballett, das heute zu den alten Bildern tanzt und so die erwartungsvolle Begeisterung in der Gegenwart mit Verve aufgreift. Technik und Kunst finden gleichsam über die Schnittmenge der Magie zueinander.
Alsbald wendet sich de Oliveira neuen Methoden der Stromgewinnung zu. Die Solarzellen fand ich eher fade, aber die Passage über Windräder ist betörend, ein wunderbares Spiel mit Formen, Licht und Bewegung. Die aktuellen Bilder stammen aus dem letzten März, mal sind sie in Farbe, manchmal schmiegen sie sich monochrom an die historischen Aufnahmen an. Die Nachproduktion konnte der Regisseur nicht mehr beenden, den fertigen Film hat er nicht mehr sehen können. Vielleicht habe ich seine Melancholie unterschätzt. Die März-Einstellungen folgen dem Wandel des Lichts im Lauf der Tageszeiten. Am Ende steht das Dunkel.
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