Die Kameradschaft des Nebels
In der letzten Woche hätte ich beinahe ein Haus gewonnen. So leicht kann es manchmal gehen: Man muss nur wissen, dass nicht John Milius das Drehbuch zu „Der Mann, der König sein wollte“ geschrieben hat.
Mein Wettgegner war sich seiner Sache absolut sicher. Der Einsatz schien ihm nicht zu riskant. (Später erfuhr ich, dass er fünf Häuser besaß.) In der Tat kannte er sich mit Milius bestens aus. Tim konnte jeden Dialog aus „Der Wind und der Löwe“ zitieren. Besonders schön deklamierte er den Brief, den Raisuli (Sean Connery) am Ende an Theodore Roosevelt (Brian Keith) schreibt: mit genau jener Mischung aus Großspurigkeit und Ironie, aus Selbstüberschätzung- und erkenntnis, die Milius' Figuren zu eigen ist. Sie hätte zweifellos auch zu den Helden von John Hustons Kipling-Verfilmung gepasst. Aber ich musste darauf bestehen, dass Huston und Gladys Hill „Der Mann, der König sein wollte“ geschrieben haben. Allerdings sei sein Irrtum naheliegend und verrate Kennerschaft, denn Milius hatte zuvor „Das war Roy Bean“ für Huston geschrieben. Mithin beharrte ich nicht auf Einlösung des Wettgewinns, zumal ich fand, dass Tim jedwede Ehrenschuld schon beglichen hatte, in dem er seine Niederlage mit dem noblen Wort eingestand, nur ein Narr sei sich immer absolut sicher.
In unseren Gesprächen ging es nicht um Rechthaberei, sondern die Freude an Geselligkeit und einer geteilten Begeisterung. Das gewonnene Haus zog sich freilich als running gag durch unsere Treffen: Wann immer sich jemand in unserem Kreis irrte, hieß es „There goes another house!“ Wir bildeten eine Gemeinschaft, die sich so verschworen nur bilden kann, wenn sie sich aus Außenseitern zusammensetzt. An Bord der „Queen Mary“ war das Rauchen nur an drei Orten gestattet. Für gut eine Woche wurde die Churchill Lounge zu unserem allabendlichen Refugium, da sie Zigarren- und Pfeifenrauchern vorbehalten war. Die meisten Teilnehmer unseres Tabakkollegiums waren Amerikaner. Zu Hochzeiten waren wir ein gutes Dutzend. Unser Ritual war uns heilig. Bald hatte jeder seinen festen Platz. Zu späterer Stunde wogten die Rauchschwaden so dicht und schwer über unseren Köpfen, dass man die Luft hätte schneiden können. Greg aus Michigan, der mir gegenübersaß, gab uns am dritten Abend einen Namen: „The fellowship of the fog“. Wir hätten uns nicht vorstellen können, dass irgendjemand sonst die Atlantiküberquerung so sehr genießen würde wie wir bei unseren Zusammenkünften.
Wir waren eine bunte Mischung. Greg arbeitete als Manager bei Fuji, Tim besaß die größte Versicherungsgesellschaft für Taxen und Busse in den USA. Gerard, der auf die Spur seiner irischen Vorfahren gehen wollte, war Vogelkundler aus Leidenschaft. Jeden Abend berichtete er uns, welche Arten er mit seinem Fernglas erspäht hatte. Ich wusste nicht, dass es so viele Vogelarten gibt, die praktisch nur auf dem Meer leben. Welchen Beruf Charlie ausgeübt hatte, fand ich nicht heraus. Dafür unterhielt er uns mit einem Erfahrungsschatz, den man sich wohl nur aneignen kann, wenn man Stammgast in gleich drei Bars in Austin, Texas ist. Mit seinem verwitterten Gesicht hätte er in jeder Verandaszene Tommy Lee Jones oder Willie Nelson die Schau gestohlen. Gelegentlich stieß noch ein anderer Herr zu uns, dessen Leibesfülle und scharf geschnittenes Gesicht ihn zur Idealbesetzung eines jovialen Mafiabosses hätte machen können. Allem Anschein nach ging er jedoch einer legalen Tätigkeit als Geschäftsmann nach und machte in seinem weißen Smoking eine beneidenswert elegante Figur.
Einer in unserem Kreis war tatsächlich ein Schauspieler. Er war mir schon bei der Einschiffung in New York ins Auge gefallen, als er in der Schlange einige Meter hinter mir und meinem Vater wartete. In „Law and Order“, einer Serie, die ich wegen der Einsichten hoch schätze, die sie ins Rechtssystem und Selbstverständnis der USA gewährt, spielte er einen Richter. Später sah ich ihn und seine Frau auf dem Weg zum Lunch, wagte aber nicht, sie anzusprechen. Welches Glück war es also für mich, dass er abends in die Churchill Lounge kam! Da ich seinen Namen nicht kannte, begrüßte ich ihn mit „Euer Ehren“. Die Rolle des Judge Walter Bradley bedeutete ihm tatsächlich viel: Er hat sie über zehn Jahre hinweg auch in allen drei Ablegern der Serie verkörpert. Ich mag seinen Walter Bradley sehr gern, weil er keiner Seite, weder der Verteidigung noch der Anklage, je einen Gefallen erwies. Er musste seine Stimme nicht erheben, um sich Gehör zu verschaffen. Er sagte, er habe die Figur als einen Scharfrichter angelegt. Walter Bradley löst sich in der Serie mit anderen Richtern ab. Mithin stand er zehn Jahre lang immer ein wenig auf Abruf und wusste nie genau, in welcher Episode er wieder an der Reihe war.
Meine neuen Freunde begrüßten ihn wie einen alten Bekannten. So bekam ich schnell seinen Vornamen heraus, Peter. Dass er ein Schauspieler war, erfuhren meine Kameraden jedoch erst durch mich. Er war zu bescheiden und zurückhaltend, um Aufhebens von sich zu machen. Viel lieber sprach er über andere, etwa darüber, wie großartig die Zusammenarbeit mit Heath Ledger bei „Brokeback Mountain“ war. Er zog es vor, uns Fragen zu stellen. Als Erstes wollte er von mir wissen, ob seine Zigarre auch wirklich etwas taugte. Ja, konnte ich ihn beruhigen, Macanudo sei eine der besten Marken aus Nicaragua. In amerikanischen Filmzeitschriften hatte ich vor Jahren Anzeigen für sie gesehen, in der ein soignierter älterer Herr und seine Tochter rauchend abgebildet waren. Der Werbeslogan war genial: „Wir wussten gar nicht, dass wir so viel gemeinsam haben.“ Einmal gesellte sich auch Peters Frau Charlotte hinzu (wir hatten keine Vorurteile gegenüber Nichtrauchern), die herausfinden wollte, wie ihr Mann seine Abende verbrachte. Ihre Warmherzigkeit war ein großer Gewinn für unsere Runde.
Später recherchierten Tim und ich, wie Peter mit vollem Namen hieß: Peter Mc Robbie. Seine Filmografie umfasst rund 100 Titel, darunter auch Serien wie „Boardwalk Empire“ und nun „Daredevil“. Von „Zelig“ an spielte er in acht Woody-Allen-Filmen mit. Sein Gesicht war mir aus „Law and Order“ so vertraut, dass diese Vertrautheit alle anderen Rollen zunächst überdeckte, aus denen ich ihn kennen musste. Natürlich, er war großartig als unerbittlich misstrauischer Beamter der Einwanderungsbehörde in Cédric Klapischs „Beziehungsweise New York“! Besonders viel bedeutete ihm die Rolle eines demokratischen Abgeordneten in „Lincoln“. Er war voll des Lobes für Spielberg, mit dem er gerade in Berlin „Bridge of Spies – Der Unterhändler“ gedreht hatte. In einer der Debatten-Szenen in „Lincoln“, so berichtete er, habe sich ein Nebendarsteller immer wieder verhaspelt. Er hatte nur ein, zwei Dialogsätze. Spielberg bewies enorme Geduld. Er gab dem Darsteller das Gefühl, sein Beitrag sei ungemein wichtig.
Unsere Gespräche erinnerten mich an das berühmte Diktum von Stanislawski, es gebe keine kleinen Rollen, nur kleine Schauspieler. Je mehr ich über Peter nachdenke, desto deutlicher wird mir, wie reich eine Filmindustrie ist, die auf ein großes Reservoir von Charakterdarstellern zurückgreifen kann. Die besten unter ihnen sind ein unverzichtbarer Mehrwert, ein Ereignis außerhalb des Zentrums. Ohne die Könnerschaft in der zweiten oder dritten Reihe besäße das US-Kino nicht die Strahlkraft, die es ausübt. Ich habe eine besondere Vorliebe für Schauspieler, die ich repräsentierende Darsteller nenne: Sie bilden die Welt in ihrer Alltäglichkeit ab. Peter wird gern in Parts besetzt, in denen er Autorität mit wenigen Gesten und Worten Gestalt verleiht. Er verkörpert nicht nur oft Richter, sondern auch Polizeichefs, Priester und Politiker. Wenn ich mir nun einige seiner Leinwandauftritte ins Gedächtnis rufe, kann ich nicht umhin, die heroische Verlässlichkeit zu bewundern, die er in jedem von ihnen beweist. Tim, dessen polterndes Auftreten die Seele eines Poeten verbarg, verlieh im Laufe unserer Abende der tiefen Dankbarkeit Ausdruck, die ein guter Nebendarsteller auslöst: „You lend gravitas“, sagte er mit bewundernswertem Taktgefühl zu Peter, „to the smallest role.“.
Die Gespräche unseres Tabakskollegiums umfassten ein breites Spektrum, aber letztlich kamen wir immer wieder aufs Kino zurück. Große Fragen wurden diskutiert: Ob wir uns erinnern konnten, wann wir zum ersten Mal „Der weiße Hai“ gesehen hatten? Das Für und Wider der Bond-Darsteller wurde ausgiebig diskutiert. Es regte sich Argwohn, ob Christoph Waltz wirklich ein geeigneter Bond-Schurke sei (ich verneinte, denn Bond-Gegenspieler dürften zwar eitel sein, ihre Darsteller aber besser nicht). Tim erfreute uns mit weiteren Dialogzitaten (nicht nur als Milius-Filmen), auf die er unweigerlich ein staunend-bewunderndes „How do you write something like that?“ folgen ließ. Peter wiederum sprach oft über Montgomery Clift und wunderte sich darüber, dass ein so schmächtiger und verletzbar wirkender Schauspieler in seinen Filmen so viele Faustkämpfe bestehen musste.
Natürlich machte auch die Frage unserer Lieblingsfilme die Runde. Für Peter waren das „Einst ein Held“ mit Alec Guiness und John Mills, „Der Schatz der Sierra Madre“ und Fellinis „Die Nächte der Cabiria“.Wie er die Schlusszene beschrieb, in der sich Cabiria nach allen Enttäuschungen und Blessuren wieder dem Leben zuwenden kann, bereitete mir eine Gänsehaut. Meine eigene Bestenliste hingegen bereitete den Amerikanern einiges Kopfzerbrechen. Sie verstanden, warum „Vertigo“ und „Chinatown“ dazugehören; von Max Ophüls' „Madame de..“ hatte Peter immerhin schon gehört und dessen „Brief einer Unbekannten“ hatte er auch gesehen. Aber weshalb ein Europäer ausgerechnet „Rio Bravo“ auf den Spitzenplatz setzte, war ihnen ein Rätsel. (Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig die Amerikaner mit dem amerikanischsten aller Regisseure anfangen können.) Abend für Abend musste ich mich erneut rechtfertigen. Ich hob die entspannte Erzählhaltung und Atmosphäre hervor. Angie Dickinson war immerhin ein Argument, dass sie alle überzeugte. Die Absage des Films an die Autarkie von Helden hingegen nicht. Eigentlich ginge es im Film darum, erläuterte ich, wie lauter Individuen zu einer tragfähigen Gemeinschaft zusammengeschweißt werden. „Du meinst,“ fragte Greg zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife, „wie hier bei uns?“
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns