Netflix: »Transatlantic«
»Transatlantic« (Staffel 1, 2023). © Netflix
Varian Fry, Mary Jayne Gold, Albert O. Hirschman: Diese drei Namen kannte man hierzulande bisher wenig, abgesehen vielleicht von Hirschman, in seinem späteren Leben ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler, der auch in Deutschland lehrte. Die drei sind die Helden der Netflix-Serie »Transatlantic«, die an die Schicksale der 1940 in Marseille gestrandeten Emigranten erinnert.
Die Hafenstadt wurde in jenem Jahr zur letzten Hoffnung Tausender Verzweifelter, die vor Hitlers vorrückender Wehrmacht flüchteten. Im Kino wurde diese »Transit«-Zeitspanne, die mit der Okkupation Südfrankreichs 1942 endete, oft aufgegriffen. Die Serie nun widmet sich den bis dato unerzählten Rettungsaktionen der Hilfsorganisation »Emergency Rescue Committee«.
Der amerikanische Journalist Varian Fry will im Auftrag des Komitees in Marseille mit anfangs 200 Visa einer Anzahl handverlesener Intellektueller die Ausreise in die USA ermöglichen, wird jedoch vom Ansturm unzähliger Hilfesuchender überwältigt. Mit einigen Freiwilligen – darunter die wagemutige amerikanische Erbin Mary Jayne Gold und der aus Berlin geflüchteten Otto-Albert Hirschmann – quartiert er eine wachsende Zahl von Flüchtlingen in eine Villa bei Marseille ein. Von dort organisieren die Helfer mit immer neuen Tricks die Flucht ihrer Schutzbefohlenen über die Pyrenäen oder mit dem Schiff nach Martinique.
Allein das Katz-und-Maus-Spiel mit allerlei undurchsichtigen Akteuren – dem amerikanischen Konsul, Nazi-Kollaborateuren, Vichy-Polizisten, britischen Geheimdienstlern – liefert grandiosen Stoff. Und erst die Flüchtlinge, die in die Freiheit geschleust werden (am Ende rettete das ERC über 2000 Menschen): ein Who's who kontinentaleuropäischer Kunstschaffender, deren exzentrisches Gebaren ebenfalls dankbares Material hergibt. Regisseurin Anna Winger (»Unorthodox«) inszeniert von einem Episoden-Cliffhanger zum nächsten.
Inspiriert ist das Drehbuch vom Romanbesteller »The Flight Portfolio«, dessen Autorin Julie Orringer Frys Mission mit dichterischer Freiheit würdigte. Winger ihrerseits nutzt die Vorlage als Lizenz für weitere frei flottierende Fantasien. Doch die fiktiven Ausschmückungen der Realität wirken gelegentlich fragwürdig. So wird etwa Fry eine homosexuelle Liebesgeschichte angedichtet, und Mary Jayne Gold muss sich im Dienste ihrer Mission prostituieren. Die Flüchtlinge, dargestellt von einem internationalen Ensemble, kommen kaum über das holzschnittartige Klischee hinaus. Moritz Bleibtreus Walter Benjamin ist ein nervliches Wrack, Alexander Fehling gibt Max Ernst als exzentrischen Kindskopf. Hannah Arendt ist, klar, eine qualmende, unablässig weise Sätze aufsagende Intellektuelle. Auch der Kontrast zwischen mediterranem Dolce Vita – gedreht wurde am Originalschauplatz Marseille – und tödlicher Bedrohung ist mit grobem Pinsel gemalt. Im Grunde ist die Serie eher eine Soap Opera – in der eine aufwendige Ausstattung permanenten Augenschmaus liefert.
Die Tonart ist bei aller Tragik humorig und durchzogen von jenem draufgängerischen Sportsgeist, wie er etwa das Kriegsdrama »Gesprengte Ketten« oder den Komödienklassiker »Sein oder Nichtsein« prägte. Diese Herangehensweise erscheint nicht als die schlechteste, um die Ereignisse und Helden einem breiten Publikum unterhaltsam nahezubringen. Das führt zu einer paradoxen Entdeckung: Mary Jayne Gold, die in jeder Einstellung ein neues Kostüm trägt und in der Mischung aus Abenteuerlust, Cleverness und blonder Naivität als unstimmiger Charakter herüberkommt, war, wie die englische Wikipedia informiert, viel faszinierender, als es der mit fiktiven Histörchen angereicherte filmische Zerrspiegel zeigt. Sie hätte längst ihre eigene Serie verdient.
OV-Trailer
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