Netflix: »A Sun«
»Warst du seine Freundin?«, fragt Frau Quin, als sie nach der Trauerfeier für ihren Sohn A-Ho für einen Augenblick mit dessen Schulkameradin zusammensitzt. Das Mädchen hat der Mutter von ihrer letzten Begegnung mit A-Ho erzählt, ihrem Spaziergang durch den Zoo, bei dem er zu ihr über die Sonne sprach, den hellsten Bestandteil der Welt, dem man nicht entrinnen kann. Der Film beglaubigt ihre Erzählung mit einer sachten Rückblende.
Die Kameradin zögert einen Moment, bevor sie ihre Antwort gibt. »Ich wünschte mir«, sagt sie, »dass ich es war.« Wenn Eltern das verborgene Leben ihrer Kinder entdecken, kommt unweigerlich Bedauern ins Spiel. Kann man Zuversicht schöpfen für die Vergangenheit? In der zweiten kurzen Rückblende immerhin, die ihren Dialog beschließt, nimmt A-Ho seine Freundin bei der Hand.
Dies ist eines von vielen Familiengeheimnissen, die Chung Mong-Hong im Verlauf seines Films enthüllt. Auch Frau Quins verschlossener Ehemann, der Fahrlehrer A-Wen, trägt einige mit sich herum. Und A-Hao erst recht, ihr zweiter Sohn, von dem der Vater so sehr enttäuscht ist. Der Regisseur nimmt sich viel Zeit, diese Rätsel aufzulösen; die Wissbegier kommt seinem Taktgefühl nicht in die Quere. Sie sind Teil eines familiären Alltags, der erst erfahren werden will – aber gleich zu Beginn brüsk aus den Angeln gehoben wird.
Um sich an einem Schulkameraden zu rächen, will der jüngere Sohn A-Hao ihm mit seinem Freund Radish einen Schrecken einjagen. Radish jedoch schlägt ihm mit einer Machete die Hand ab. Die zwei werden zu Haft in der Jugendstrafanstalt verurteilt. Wenn A-Wen fortan von den Fahrschülern nach seinen Kindern befragt wird, antwortet er, er habe nur einen Sohn. Er setzt all seine Hoffnungen auf den Älteren, A-Ho. Das war schon immer so. Eines Tages erscheint eine junge Frau im Haus der Familie. Das stille Waisenkind bekommt ein Kind vom jüngeren, inhaftierten Sohn. Quin nimmt sie auf, gegen den Widerstand ihres Mannes. Auch der ältere Bruder kümmert sich um den unerwarteten Familienzuwachs. Aber A-Ho ist nicht der ungetrübte Sonnenschein, für den ihn die Eltern hielten: Eines Nachts stürzt er sich aus dem Fenster. Der Vater droht zu zerbrechen an dieser Tragödie.
Unterdessen lernt der Jüngere, sich im Gefängnisalltag zu behaupten. Das Mädchen und er heiraten in einer bizarren Zeremonie. Als er entlassen wird, erweisen ihm seine Kameraden mit einem Abschiedslied Respekt. Das ist ein Moment ohne Pathos, vielmehr einer der lyrischen Ermutigung, wie es viele gibt in diesem Film. Chung wünscht seinen Charakteren nichts mehr, als dass sie ein neues Bündnis schließen können mit dem Leben. Im zweiten Akt jedoch, der drei Jahre später spielt, verändert sich bang der Spannungsbogen seines Films. In das Leben des Jüngeren ist Stabilität eingekehrt. Mit zwei Jobs bestreitet er den Unterhalt seiner eigenen Familie; der Vater hat sich ihm geöffnet. Dann tritt plötzlich Radish wieder auf den Plan, der länger in Haft saß und nun die alte Schuld einklagt. Wird sich die Familie dieses unberechenbaren Gegenspielers erwehren können, aus dessen Drohungen stets ein Vorwurf der Kränkung klingt?
Das Lebensmotto des Vaters, »Ergreife den Tag. Wähle deinen Weg«, ist allgegenwärtig im Film, als Metapher wie als pragmatische Realität. Eines der Geheimnisse liegt darin, ob A-Wen überhaupt daran glaubt. Chung, der seinen Figuren nie zu nahe kommt (seine Totalen sind im Gegenzug genial), weiß, dass es so banal wie weise ist. Er überprüft es im Alltäglichen, mit einem feinen Blick für dessen Details und der Bereitschaft, ihnen eine unerwartete Wendung zu geben. Dieses Motto ist richtungsweisend und belastbar, auch ästhetisch. »A Sun« ist ein eminent mobiler Film. Es gibt viele Autofahrten in ihm und ebenso viele Spaziergänge. In Ersteren wird auf Entscheidungen gedrungen, in Zweiteren offenbaren sich Erkenntnisse. Enden wird der Film jedoch mit einem Ausflug auf dem Fahrrad. Gewiss, es ist nur ausgeborgt, fast sogar gestohlen. Aber von ihm kann man ganz gelöst in die Nachmittagssonne schauen.
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