Zeit ist ihr Luxus
© BBC/Tiger Aspect/Amanda Searle
Beim britischen Fernsehen und seinen Serienideen bediente sich schon immer die ganze Welt. In den letzten Jahren aber scheinen die Briten ihrerseits etwas von den neuen US-Serien gelernt zu haben und produzieren Qualitätsstücke vom Feinsten. Anke Sterneborg über die Serien, die sich mit vergangenen Epochen befassen und damit im doppelten Sinne Geschichte schreiben
Vorbei sind die Zeiten, in denen man bei britischem Fernsehen im schlechteren Fall an die angestaubten Adelsdynastien vom »Haus am Eaton Place« dachte und im besseren Fall an die skurrile Komödienanarchie von John Cleese’s »Fawlty Towers«. Das Inselreich strotzte zwar schon immer vor TV-Ideen, doch was sich in den letzten zehn und insbesondere in den letzten drei Jahren dort getan hat, gleicht einer kleinen Explosion. In dieser Zeit ist aus Großbritannien eine mächtige und vielseitige Serienpower erwachsen, die in alle Richtungen wuchert. Da gibt es historische Kostümdramen wie »Downton Abbey«, »Parade’s End« und »The Paradise«, Krimis und Thriller wie »Life on Mars«, »Broadchurch«, »Luther«, »Inside Men«, »Sherlock« und »The Fall«, Teenieserien und Science-Fiction-Abenteuer wie »Skins«, »Misfits«, »Being Human«, Komödien wie »Spaced«, »Family Tree«, »The Office«, »Little Britain« und »The ITCrowd « sowie Familiendramen wie »Shameless « oder »Hit and Miss«. Und, und, und.
Schon immer wurden britische Serien auch in den USA wahrgenommen und dann kopiert, wie jüngst etwa »The Office« oder »Shameless«, von denen es britische und amerikanische Versionen gibt, die durchaus jeweils eigene Akzente setzen. Immer öfter kommt es auch zu amerikanisch-britischen Koproduktionen wie »Extras« oder »The Fall«. Die grandiosen unter den Serien wie »The Hour« oder »Luther« erfahren in den USA sogar mehr Wertschätzung als im eigenen Land, wo Zeitungen wie der »Guardian « eher die Nase rümpfen.
Angespornt durch den amerikanischen Serienboom, mobilisieren Sender wie BBC und Channel 4 eine ungeheure kreative und finanzielle Power. Versucht man, dieser Kreativexplosion auf die Spur zu kommen, stellt man schnell fest, dass die Briten einiges von den amerikanischen Serien gelernt haben, was Spannung, Look und hohe »Production Values« betrifft oder die Entwicklung parallel kriselnder Handlungsebenen: Statt brav in eine Richtung zu ermitteln, kämpfen Helden wie »Ripper Street«-Inspector Edmund Reid immer zugleich an mehreren Fronten, privaten und beruflichen. Statt jedoch zu kopieren, machen die Briten sehr eigenwillig ihr eigenes Ding, was vor allem heißt, dass die Geschichten dreckiger und realistischer sind, ganz in der großen britischen »kitchen sink«-Tradition.
Nach wie vor gibt es die besondere Faszination für die Historie, insbesondere für die viktorianische Zeit, doch die Vergangenheit rückt in diesen Serien in unmittelbare Nähe, als Zuschauer betrachtet man sie nicht mehr aus der Distanz, sondern wird ganz unmittelbar hineingeworfen. Was diese Serien immer wieder zu einem besonderen Vergnügen macht, ist die Art, wie sie Worte zur Waffe machen, weniger mit Pistolen und Gewehren kämpfen als mit den Speerspitzen der Sprache. Schließlich haben die Briten eine eigene Kultur der Miniserie erschaffen, statt 12 oder 24 Episoden pro Staffel dürfen es da auch mal nur sechs (»Luther«) oder vier (»Inside Men«) sein oder drei 90-minütige Filme (»Sherlock«), was vor allem bedeutet, dass namhafte Schauspieler sich leichter zum Fernsehen verführen lassen, weil sie dafür nicht das Kino und das Theater aufgeben müssen.
Nehmen wir »Sherlock«, das radikalste Update einer viktorianischen Geschichte: In der Version von Mark Gatiss und Steven Moffat liegt die 221B Baker Street im heutigen London, wo die analytische Wachsamkeit von Sir Conan Doyles legendärem Detektiv durch Smartphones und Computer unterstützt wird. Benedict Cumberbatch spielt ihn als postmodernen Dandy, mit federnd energischem Gang und wehenden Mantelschößen, mit vornehm blassem Teint und tiefer Bassstimme. Ganz zeitgemäß gründet er angesichts unerschwinglicher Mietpreise im kühlen London eine Wohngemeinschaft mit dem Afghanistan- Kriegsheimkehrer Dr. John Watson (Martin Freeman), dem er auf den Kopf zusagt, dass er vom Krieg nicht traumatisiert sei, sondern ihn in Wirklichkeit vermisse. So gehen die beiden gemeinsam an die Front des modernen Verbrechens und in den Clinch mit dem legendären Supergangster Moriarty, der zugleich Nemesis und Spielpartner ist. Die Autoren haben die Figuren nicht einfach nur aus der Vergangenheit in die Moderne verschoben, sondern sie tief darin verwurzelt. Statt sich in Opiumschwaden zu hüllen, genießt Holmes einfach nur das High seiner gesteigerten Intelligenz, und Watson schreibt keine Memoiren, sondern einen Blog.
Wenn Holmes alles Banale und Überflüssige konsequent aus seiner Wahrnehmung filtert – wozu bei ihm allerdings auch das Essen (»I don’t eat when I work, digesting slows me down«) und die Gefühle gehören –, dann ist das ein probates Gegenmittel zur Reizüberflutung des 21. Jahrhunderts. Und wenn Watson eine hektische Aktion als das Albernste bezeichnet, was er je getan habe, erwidert Holmes trocken: »Du bist in Afghanistan einmarschiert.«
Alles, was die beiden tun und sagen, erscheint plausibel aus dem Geist der Vorlage und zugleich glaubwürdig im Jetzt und Hier. Das gilt auch für die filmischen Erzähltechniken, die Holmes’ Denk- und Arbeitsweise entsprechen: all die Rückblenden, Erinnerungsflashes und Sprach-Inserts, sichtbar gewordene Gedankenchiffren, die dem Zuschauer dabei helfen, mit dem rasanten Fluss seiner Assoziationsketten Schritt zu halten. Der öde Blick aufs Smartphone-Display wird dem Zuschauer erspart, stattdessen werden die SMS-Texte direkt ins Bild eingeblendet, als Teil der detektivischen Wahrnehmung. Aus der Tradition Conan Doyles erwächst eine Qualität für den Großteil der neuen britischen Serien: Mindestens so wichtig wie die Lösung der Kriminalfälle sind die Beziehungen zwischen den Figuren, die Art, wie hier voller Witz und Ironie das Verhältnis der beiden Männer ausgelotet wird, all die kleinen Kabbeleien und Sprachspiele, mit all den am Rande, beiläufig fallengelassenen Lebensweisheiten.
Diese Lust an der Sprache zeichnet auch eine der brillantesten neuen Serien aus, »The Hour«, erschaffen von Abi Morgan, die auch die Drehbuchvorlagen von Steve McQueens Shame und Phyllida Lloyds Die eiserne Lady verfasst hat. Wie viele der besten Serien spielt auch diese auf der Schwelle einer Zeitenwende. Wo die amerikanische Serie »Mad Men« (mit der »The Hour« immer wieder verglichen wird, nicht allein weil auch hier unzählige Whiskygläser geleert und Zigaretten geraucht werden) die Anfänge der Werbeindustrie in den 60er Jahren in New York thematisierte, geht es in »The Hour« um die Anfänge moderner Nachrichtenmagazine im Fernsehen, in den 50er Jahren in London.
Die erste Staffel spielt 1956 zur Zeit der Suez- Krise, die als politischer Hintergrund für ein komplexes Geflecht von Geschichten dient, eine vielschichtige Verstrickung von öffentlichen und privaten Krisenherden. Im Zentrum steht ein Trio, das in beruflicher Konkurrenz und privater Rivalität verbunden ist, der Nachrichtensprecher Hector Madden (Dominic West), der Reporter Freddie Lyon (Ben Whishaw) und die Produzentin Bel Rowley (Romola Garai). Wie in den meisten dieser Geschichten, die vom Aufbruch in neue Zeiten handeln, geht es auch hier darum, dass sich die Frauen ihre ersten Plätze erobern, wobei Bel sich nicht erst hocharbeiten muss, sondern von Anfang an eine starke Position innehat, auf der sie sich allerdings unablässig behaupten muss. Wenn Frauen ernst genommen werden und nicht nur eine doofe Marionette in den Armen jedes gutaussehenden Mannes in der BBC sein wollen, dann gilt: »First rule, don’t make tea«, wie sie einer Kollegin dringend nahelegt.
Diese Geschichten strotzen nur so vor Energie und Sinnlichkeit, nicht zuletzt auch weil die vergangenen Jahrzehnte hier keine in sich abgeschlossene Vergangenheit mehr sind, weil sie Brücken schlagen zur Gegenwart, in der es immer noch um die Gleichstellung der Frau geht, um Korruption und Machtmissbrauch, Vertuschung und Verschleierung in Politik und Wirtschaft, und um die Diskriminierung von Minderheiten.
»The Hour« erinnert auch an George Clooneys Good Night, and Good Luck, der ebenfalls in einer Nachrichtenredaktion spielt und dabei Privates mit Politischem verzahnt. Stilistisch und inhaltlich können sich die besten britischen Serien mühelos mit großen Kinofilmen messen, genießen dabei aber den Luxus, Beziehungen in vielschichtigen Nuancen ausloten und komplexe Geschichten in epischer Breite entfalten zu können, Geschichten über berufliche Karrieren, über die Flucht aus einer einengenden Ehe, über all die Widersprüche zwischen Entertainment und News, zwischen Politik und Spionage, zwischen persönlichem Glück und beruflichem Erfolg. Neben dem liebevoll zum Leben erweckten Zeitgefühl bestechen die scharfsinnigen Dialoge, die eines Oscar Wilde würdig wären. Als Handwerkszeug der Journalisten liefern sie immer wieder doppeldeutige Analysen einer komplizierten Welt: »One must be light on one’s foot and mercurial on one’s thought.« »I’d rather debate without settlement, than settle without a debate.« Zu Recht pries der »New Yorker« »The Hour« als Essenz von Hitchcock und Fleming; ein Jammer, dass die Serie nach zwei Staffeln eingestellt wurde.
Auf andere Weise kreist auch »The Paradise« um die Pionierzeit der Moderne, um die Geburt des modernen Warenhauses in den viktorianischen 1870ern im Norden Englands. Ausgehend von Émile Zolas Roman »Das Paradies der Damen« breitet Bill Gallagher die Geschichte in bislang acht Folgen in epischer Breite und luxuriösen Details aus. »Die Zeit der kleinen Läden ist vorbei«, lässt John Moray (Emun Elliot mit dem Appeal eines Robert Downey Jr.) seinen glücklosen Konkurrenten, den alten Schneider von gegenüber (Stephen Wight), wissen: »Sie bekämpfen nicht mich, einen Mann, sondern den Fortschritt.« Moray war ein kleiner Textilkaufmann, der sich einen kleinen Laden gekauft hat und seitdem stetig expandiert. Der wirtschaftliche Reichtum, den er nicht ererbt, sondern erarbeitet hat, öffnet ihm die Türen zur höheren Gesellschaft, ohne dass er deshalb eine echte Chance hätte, dazuzugehören. Doch wie viele andere liberale weltoffene Serienhelden bringt auch er Bewegung ins seit Jahrhunderten zementierte Klassensystem. Er lockt den ebenso reichen wie gelangweilten Adel in seinen Laden. Die Damen der feinen Gesellschaft erschauern zwar angesichts der Gefahr, mit der Tochter des Gemischtwarenhändlers am selben Handschuhtresen zu stehen, können sich den Versuchungen aber auch nicht entziehen.
Das viktorianische Kostümdrama ist hier gründlich entstaubt. Wenn die Kamera durch die Räume des Konsumtempels gleitet und fliegt, entwickelt sie einen magnetischen Sog und pure Verführungskraft. Schon im Vorspann wird die luxuriöse Sinnlichkeit der Oberflächen zelebriert, der Blick gleitet über edle Parfümflakons, barocke Broschen und raschelnde Stoffe, die im warmen Licht funkeln und schmeicheln. Auch hier ist der Aufbruch in die Moderne eine Chance für die Emanzipation der Frau, so wie Bel in »The Hour« wird hier Denise zur Galionsfigur für ein modernes Frauenbild, eine junge Frau aus einfachen ländlichen Verhältnissen, die ihr Glück in der Stadt versuchen will. Als einer ihrer Kolleginnen auffällt, dass sie die Augen nicht von ihrem Boss nehmen kann, stellt sie schnell richtig: »Ich will ihn nicht heiraten, ich will er sein!« Mit einer Fülle progressiver Vermarktungsideen beflügelt sie das Geschäft, eifersüchtig bewacht von der alten Chefin, die für ihre Karriere noch ihr Familienleben aufgeben musste. Joanna Vanderham spielt dieses moderne Wesen nicht als von Ehrgeiz zerfressenes Monster, sondern sprühend vor Energien, mit leisem Esprit und charmanter Bescheidenheit. Die Sinnlichkeit von Ausstattung und Kostüm, der Wortwitz vieldeutiger Dialoge, die auch hier wieder gespickt sind mit kleinen Lebensweisheiten (»If we bend a little, we don’t break«), in einem Geflecht widersprüchlicher Gefühle von Missgunst, Liebe, Hoffnung, Schuld machen »The Paradise« zu einem erlesen flirrenden Vergnügen, in das sich mit einem mafiösen Element auch ein Hauch von Krimi schleicht.
Auch in »Downton Abbey« ist nur noch wenig zu spüren vom angestaubten Ernst des »Eaton Place«. Die Kamera entwickelt einen mitreißenden Drive, wenn sie durch endlose Raumfluchten, Säle, Gänge und Treppen gleitet, wenn sie sich ins Räderwerk alltäglicher Verrichtungen einklinkt, während sich die Nachricht vom Untergang der »Titanic« verbreitet. Es liegt Veränderung in der Luft, mit den neuen Errungenschaften von Elektrizität, Telefon und Medizin, aber auch die engen Korsagen der britischen Klassengesellschaft lockern sich. Auch hier steht eine liberale, weltoffene Figur im Zentrum des Geschehens, Graf Robert von Grantham, Besitzer des Schlosses Downton Abbey, der mit seinen weltoffenen Ansichten bei den konservativen Kräften in seinem Haus aneckt, seiner Frau, seiner ältesten Tochter und vor allem seiner Mutter, der snobistischen Gräfinwitwe Violet Crowley: eine wunderbare Rolle für Maggie Smith, die alle Standesdünkel ihrer Figur in einem einzigen kleinen Satz destillieren kann, gewürzt mit einem beiläufig vernichtenden Blick und der resignierten Traurigkeit ob des zunehmend unvermeidbaren Wandels. Die aufkommende Elektrizität ist für sie Teufelswerk, das ihr den Schlaf raubt, und als der bürgerliche Erbe des Anwesens mal das Stichwort Wochenende ins Spiel bringt, schnaubt sie in echter Ahnungslosigkeit: »Weekend, what is that?« und spricht das Wort dabei so aus, als würde sie es mit spitzen Fingern anfassen und sich anschließend gründlich die Finger waschen. Die Dialektik von »Downstairs« und »Upstairs«, die sich als Riss durch viele der britischen Serien zieht, ist spürbar aus dem Geist von Robert Altmans Gosford Park entstanden, zu dem Autor Julian Fellowes auch schon das Drehbuch verfasst hat. Hier leistet er sich den Luxus, all die kleinen und großen Sticheleien und Intrigen, all die gewisperten Bosheiten und durchtriebenen Pläne en detail in einem vielschichtigen Spannungsverhältnis auszuloten, all die Grabenkämpfe, die nicht nur zwischen Adel und Arbeiterklasse ausgetragen werden, sondern auch innerhalb der hierarchischen Strukturen beider Lager. Statt sich wie in altmodischen Verfilmungen in die restriktive Welt zu versenken, nähern sich die Regisseure der Vergangenheit heute mit den filmischen Mitteln der Gegenwart, mit beweglichen Kameras, virtuosen Schnittfolgen, vibrierender Musik und vor allem mit dem gar nicht mehr maskenhaften, sondern sehr durchlässigen Spiel großartiger Schauspieler.
Vergleichsweise enttäuschend ist dagegen »Parade’s End«, eine Koproduktion von BBC und HBO, die ebenfalls vom Umbruch der Zeiten erzählt, vor und während des Ersten Weltkrieges. Benedict Cumberbatch, der es in »Sherlock« so mühelos schaffte, einer völlig lebensfremden und distanzierten Figur Charisma und Sex Appeal zu geben, wirkt in der Rolle des von Gewissen und Kriegstraumata gebeutelten Adligen Christopher Tietjens freudlos und selbstzerstörerisch. In einer vom Verfall der Sitten und Werte gezeichneten Zeit, die vom Gift gesellschaftlicher Gerüchte zersetzt wird, steht er vor allem sich selbst im Weg, und damit auch den beiden Frauen, die ihn lieben, hier seine Frau, die kapriziöse Lady Sylvia (Rebecca Hall als einzig schillernde Figur), dort die junge Suffragette Valentine Wannop (Adelaide Clemens). »You forgave without mercy«, sagt Lady Sylvia treffend, wobei die Freudlosigkeit der Figuren mehr mit der Vorlage und weniger mit der Adaption von Tom Stoppard zu tun haben dürfte, der ebenfalls wunderbare Bonmots und Sottisen einstreut wie: »That’s the problem with trouble, it starts with so much fun . . . «.
Dagegen taucht »Ripper Street« (aus der Feder von Richard Warlow) mit frischem Atem und schlagendem Puls in die Straßen des viktorianischen London ein, 1889. Erneut spielen die Krimigeschichten an der Schwelle zu einer Zeitenwende, dem Ende des 19. Jahrhunderts als Geburtsstunde der modernen Verbrechensbekämpfung: Der letzte Ripper-Mord liegt sechs Monate zurück, ein geschäftstüchtiger Insider führt eine kleine Gruppe schauerfreudiger Touristen durchs Viertel, als eine neue Leiche gefunden wird. Alle Zeichen deuten auf den legendären Hurenschlitzer, doch Detective Inspector Edmund Reid (Matthew Macfadyen) gibt sich mit dem ersten Anschein nicht zufrieden und setzt stattdessen progressiv auf Spurensicherung und Post-mortem-Analyse. Das bedeutet für ihn, dass er die Leiche höchstpersönlich aus der düsteren Gasse in eine Gefängniszelle tragen muss. Ab der zweiten Folge wird dem ehemaligen Pinkerton-Detektiv Homer Jackson dann ein sogenannter »dead room« mit gefliesten Wänden, fließend warmem Wasser und einer Metallbahre mit Abtropfrinne bereitgestellt. Bei der Untersuchung stellt sich heraus, dass die junge Frau keine Hure, sondern eine Violinistin war, aber mit Verbindungen ins Rotlichtmilieu. Und dann stellt der Film die grandios verwegene These auf, dass das Kino womöglich nicht erst von den Gebrüdern Lumière 1895, sondern schon sechs Jahre früher von einem findigen Tüftler im Umfeld des Pornogeschäfts erfunden wurde. Allein für solche funkelnden Ideen muss man die Engländer und ihre »Ripper Street« lieben.
Die düsteren Bilder eröffnen einen ungeschönten, ungefilterten Blick auf illegale Boxkämpfe, Prostitution und Pornografie, und der Londoner Stadtteil Whitechapel ist keine sterile Historienkonserve, in der man das Gefühl hat, jeder Rinnstein sei von der Ausstattungsabteilung mit sorgfältigem Schmutz-Make-up versehen, sondern ein realistischer, authentischer, dreckiger Lebensraum. Rasante Schnittfolgen und explodierende Erinnerungsflashes katapultieren den Zuschauer mitten hinein in den vibrierenden industriellen Großstadtmoloch London, so wie generell diese vor Energie und Sinnlichkeit und tiefsinnigen Wortspielen strotzenden Serien immer wieder einer Einladung zur Zeitreise gleichen. Und weil der große Luxus dieser Serien im Kontrast zum Kino die Zeit ist, in der sie ihre wuchernden Geschichten entfalten können, ist das mehr als nur ein Kurztrip am Wochenende, sondern fast schon eine Urlaubsreise. Es gibt noch viel zu entdecken!
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