Zeit für Helden: Der Wuxia-Film
»A Touch of Zen« (1971)
Es sieht so leicht aus, wenn die Protagonisten in den Filmen von King Hu die Wände hochgehen. Aber der chinesische Wuxia-Film ist ein kompliziertes, hochartifizielles Genre
Mit seinen Essstäbchen fischt der weiß gewandete Reisende den nach ihm geschleuderten Dolch aus der Luft. Zack! So schnell kann keiner schauen. Ein ordentlich beeindrucktes Raunen geht durch die Herberge am Drachentor, deren Gäste den Fremden mit allen Mitteln zu vertreiben suchen. Doch sie werden ihn nicht los, und er wird, gemeinsam mit weiteren nicht eben untalentierten Kampfeskünstlern, die sinistren Pläne des heimtückischen kaiserlichen Obereunuchen durchkreuzen und den armen Kindern des ermordeten ehrenwerten General Yu das Leben retten. Und dann wird unser Mann – in Gestalt des Schauspielers Chun Shi – weiterwandern, aus »Dragon Gate Inn« (1967) hinaus und in »A Touch of Zen« (1971) hinein, von einem Meisterwerk des großen Regisseurs King Hu (1931–1997) zum anderen. In »A Touch of Zen« allerdings wird er nicht mit scharfer Klinge, sondern mit scharfem Verstand gegen die Machenschaften der korrupten Obrigkeit zu Felde ziehen und einer schönen Beamtentochter zur Seite stehen, die sich in vergleichbarer Bredouille wiederfindet wie zuvor die Kinder des Generals. Am Ende, 2003, wird sich Chun Shi in Tsai Ming-liangs »Goodbye Dragon Inn« in der letzten Vorstellung eines alten, zerfallenden Filmtheaters in Taipeh angesichts seines jüngeren Selbst auf der Leinwand melancholisch vergangener Zeiten erinnern. Und das deutsche Publikum kann es ihm gleichtun, wenn Rapid Eye Movies im August mit »Dragon Gate Inn« und »A Touch of Zen« zwei Meilensteine des Wuxia-Genres wieder in die hiesigen Kinos bringt.
In diesem Genre, das in der chinesischen Literatur (seit der Ming-Dynastie, 1368–1644) ebenso bedeutsam ausgeprägt ist wie im chinesischen Film (beginnend im Shanghai der 1920er Jahre), wird von ritterlichen Helden – und mit größter Selbstverständlichkeit: Heldinnen – erzählt, die sich, einem rigiden Moralkodex gehorchend, gegen Korruption und Machtmissbrauch zur Wehr setzen – und die sich in besonderer Weise in den Kampfkünsten auszeichnen. Von Beginn an wurde das Genre aufgrund seines kritischen, ja widerständigen Potenzials von den jeweils Herrschenden misstrauisch beäugt und hatte auf unterschiedliche Weisen mit der Zensur zu kämpfen.
Innerhalb des Martial-Arts-Genres, dem es als Subgenre zuzuordnen ist, zeichnet sich Wuxia durch einen hohen Anteil an fantastischen Elementen aus, bevorzugt in Form der übernatürlichen Kräfte, des unwahrscheinlichen Könnens seiner ProtagonistInnen. »Ihr Schwert ist schrecklich!«, heißt es etwa oder: »Sein Kung-Fu ist bemerkenswert!« Als sei weiter nichts dabei, dass einer senkrecht eine Wand hochläuft, aus dem Stand meterhoch springt und dann durch die Luft schwebt, in den Wipfeln eines Bambushains den Halt nicht verliert und die Wasseroberfläche nur mit der Fußspitze berührt – wohlgemerkt während er oder sie gleichzeitig das Schwert mit höchstmöglicher Virtuosität führt. Sie springen wie Gummibälle, fliegen wie Vögel, schlagen und verteidigen schnell wie der Blitz, handhaben Waffen, als seien diese mit ihnen verwachsen. Wie nicht von dieser Welt wollen die schwerelosen Kämpfer dem Zuschauer erscheinen.
Tatsächlich wurzeln die erstaunlichen Fähigkeiten der edlen Helden, zumindest der Tradition des Genres nach, im Metaphysischen: Sie sind das Ergebnis von Meditation, Übungen zur Kultivierung innerer Energie (Qigong), Disziplin, Körperbeherrschung und dem beinharten Training eines der zahlreichen chinesischen Kampfstile. Auf der Leinwand wird das fulminante Gewirbel tricktechnisch umgesetzt. Mit Ti Lung und Jimmy Wang Yu, Feng Hsu und Cheng Pei Pei – um nur wenige der ProtagonistInnen des klassischen Martial-Arts-Kinos zu nennen – agieren zwar in den Kampfkünsten geübte DarstellerInnen vor der Kamera, die auch in komplexen Massenchoreographien eine gute Figur machen. Doch selbst die würden keinen Meter vom Boden abheben, wären da nicht die auf dem Set versteckten Sprungbretter und Trampoline, und gäbe es nicht die Choreographen, Stunt-Teams und Wire-Works-Spezialisten, die die Akteure an Drähten durch die Luft ziehen und in Flugbahnen lenken, auf denen sie Posen einnehmen und Figuren vollführen.
Die Artifizialität der in ihnen zum Ausdruck kommenden Gewalt und die eher abstrakte dramaturgische Funktion, die den Kampfszenen zukommt, erklären sich durch die Verwandschaft dieser Erzählform mit der Peking-Oper, einer Hunderte von Jahre alten spektakulären und hoch stilisierten Theatergattung, die Gesang, Tanz, Spiel und Kampf verbindet, um Melodramen, Mythen oder historische Ereignisse in Szene zu setzen. Dementsprechend kommt dem Kampf als äußerer Gestaltung inneren Erlebens im Kontext der jeweiligen Geschichte zentrale Funktion zu. Und insofern ist der Wuxia-Film vom gemeinen Kung-Fu-Film denn auch zu unterscheiden. Ebenso wie man ihn nicht mit einem Xianxia, einem Fantasyfilm, verwechseln sollte, in dem sich ein stärkerer daoistischer Einfluss in Form von an der Handlung teilnehmenden übernatürlichen Wesen bemerkbar macht.
Auf der einen Seite wären da also die eher handgreiflich-zupackenden Kloppereien: die Produktionen, die Bruce Lee zur Ikone und das Martial-Arts-Genre in den sechziger und siebziger Jahren im Westen bekannt machten. Außerdem die Filme, die Chang Cheh (1923–2002) unter der Ägide des Shaw-Brothers-Studios drehte, und die von heroisch sich bewährender Männlichkeit erzählen, von unverbrüchlicher Freundschaft und blutigen Opfertoden. Auf der anderen Seite finden sich fantastische Spektakel wie »A Chinese Ghost Story« (Ching Siu-tung, 1987) und »The Bride with White Hair« (Ronny Yu, 1993), in denen Geister und Dämonen ihr Unwesen treiben und zur verblüffenden Kampfkunst jede Menge magischer Zauber hinzukommt. Wuxia steht in der Mitte, bildet das Fundament und erinnert in seiner Anpassungsfähigkeit und vielfältigen Gestaltbarkeit an das Western-Genre, das ja gleichfalls nicht totzukriegen ist.
Als einer der ersten Wuxia-Filme gilt die von Shichuan Zhang gedrehte 18-teilige Serie »Burning of the Red Lotus Temple« (1928–31). Klassiker des Genres – zu denen neben Hus bereits genannten beiden Filmen auch sein »Come Drink with Me« (1966), Chang Chehs »The One-Armed Swordsman« (1967) und Chor Yuens »The Sentimental Swordsman« (1977) gehören – entstanden ab den späten sechziger Jahren und markierten die Hochblüte des Hongkong-Kinos. Eine Phase des Ruhms und weltweiter Bekanntheit, an die die Nachwuchsregisseure der sogenannten New Wave mit Beginn der Achtziger anschlossen – wichtige Beiträge zum Genre waren etwa Patrick Tams »The Sword« (1980) und Tsui Harks »The Blade« (1995). Zeitgleich tritt Jet Li als versierter Martial Artist das Erbe Bruce Lees an. 1994 steuerte Autorenfilmer Wong Kar-wai mit Ashes of Time einen singulären Beitrag von hohem ästhetischen Wert und unklarer Erzählung zum Wuxia bei. 2000 gelang Ang Lee mit Crouching Tiger, Hidden Dragon die geradezu musterschülerhafte Anpassung an moderne Zeiten und Techniken, die zudem die essenziellen narrativen Elemente des Genres für ein westliches Publikum kompatibel aufbereitet.
Umgekehrt wendete Peter Chan 2011 in »Wuxia« klassische Wuxia-Motive auf den Stoff von David Cronenbergs »A History of Violence« an. Während wiederum Zhang Yimou, als er mit »Hero« (2002) seine opulente Phase einläutete, die Kunst, ein Schwert zu führen, nicht lediglich zum Anlass für spektakuläre Kämpfe nahm, sondern auch als Anknüpfungspunkt staatsphilosophischer Auseinandersetzungen über die Kunst des gerechten Regierens. Er nutzte so jenes Werkzeug der Kritik, das das Genre eben auch bietet.
Vor diesem Hintergrund wird denn auch verständlich, warum der unabhängige Filmemacher Jia Zhangke sich mit dem Titel seines 2013 uraufgeführten »A Touch of Sin« auf King Hus zentrales Wuxia-Werk bezieht: Auch bei Jia ziehen notgedrungene Ritter gegen die ungerechten Verhältnisse zu Felde. Heroisch, spektakulär oder auch nur glanzvoll ist hier allerdings nichts mehr, das ist nur noch bitter karge Gegenwart. Zeit für Helden.
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