Sehen Sie Käutner!
Helmut Käutner bei Dreharbeiten zu »Die Gans von Sedan« (1959)
Vielleicht musste man Helmut Käutner, der in den vierziger Jahren mit Hans Albers drehte und in den Fünfzigern mit Maria Schell, vorübergehend vergessen. Damit man ihn heute, zum 100. Geburtstag am 25. März, wiederentdecken kann: als einen Regisseur mit Risikobereitschaft und seltenem visuellem Gespür
Sein erster Film Kitty und die Weltkonferenz stammt aus dem Jahr 1939, und in den sechziger Jahren klang seine Karriere mit eher ephemeren Werken mehr oder weniger unglücklich aus. Helmut Käutners produktivste Zeit fällt zusammen mit einer industrialisierten Filmproduktion, wie wir sie heute gar nicht mehr kennen. Dass ein Regisseur in den Vierzigern (sogar zu Kriegszeiten) und Fünfzigern mindestens einen Film pro Jahr gemacht hat, war selbstverständlich. Die Jahre dieser kontinuierlich arbeitenden Studioproduktion waren aber auch die, in denen der Film in Deutschland den größten Zwängen ausgesetzt war: zuerst der Zensur und der Lenkung durch die nationalsozialistische Diktatur, später dem Druck des Marktes und der Produzenten.
Helmut Käutner, das sollte man nie vergessen, war beides: ein Kind der Filmindustrie - und ein Künstler, dessen Werk man nur vor dem Hintergrund zeitgeschichtlichen Drucks sehen kann. Neun seiner Filme entstanden unter dem Faschismus, und wir wissen um die Probleme, die er mit der Zensur hatte. Schon bei Kitty und die Weltkonferenz soll sich Reichsaußenminister Ribbentrop persönlich an der für ihn zu positiv geschilderten Figur eines britischen Adligen gestört haben - drei Tage nach seiner Premiere wurde der Film verboten. Bei dem Hans-Albers-Vehikel Grosse Freiheit Nr. 7 (1944) hat sich Admiral Dönitz gegen den Film eingesetzt: Deutsche Seeleute trinken eben nicht. Für das Reichsgebiet wurde die Produktion verboten, ihre Uraufführung erlebte sie im noch von der Wehrmacht gehaltenen Prag. Später dann, in den fünfziger Jahren, galt Käutner mitunter als Kassengift. Ein Produktionssystem wie das heutige bundesrepublikanische, in dem Regisseure überleben können, deren gesamtes OEuvre vielleicht keine halbe Million Besucher ins Kino gezogen hat, war in den fünfziger Jahren, die keine Förderung kannten, noch völlig fremd. Käutner musste Kompromisse akzeptieren - wie etwa die Besetzung seines ziemlich verunglückten Schinderhannes-Films aus dem Jahre 1958: nur mit Stars wie Curd Jürgens und Maria Schell bekam er den Film mit seinen vielen Bauten und Massenszenen finanziert.
Vielleicht hat er ja seine besten Filme während der Nazi-Zeit gedreht - auf alle Fälle gehören Wir machen Musik, Romanze in Moll und Unter den Brücken zu den Meisterwerken in seiner Filmografie. Käutner war kein Kämpfer, und er ist nicht emigriert, aber es ist ihm gelungen, künstlerische Unabhängigkeit und persönliche Integrität zu wahren. Man sieht keine NS-Symbole in seinen Filmen, keine Flaggen, keine Hakenkreuze, und Uniformrollen kommen nur selten vor.
Anders als den ausgesprochenen Kollaborateuren unter seinen Kollegen wurde ihm, vielleicht gerade wegen seiner eigenen Verstrickung in Goebbels' Illusionsmaschinerie, die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur zur »Schicksalszeit«. Kein anderer Regisseur der fünfziger Jahre hat sich in so vielen Filmen mit »jenen« Tagen beschäftigt wie er. Das war auch der Titel seines ersten nach dem Krieg realisierten Films: In jenen Tagen von 1946. Man merkt den frühen, in den Besatzungszonen entstehenden Filmen an, wie sie versuchen, in ihrer Ästhetik durch Kunst- und Rückgriffe sich ihrer selbst zu versichern. In Wolfgang Staudtes Die Mörder sind unter uns (1946) mit seinen Schatten und Helldunkeleffekten sind es die Reminiszenzen an das expressionistische Kino der zwanziger Jahre, Harald Braun bemühte in Zwischen gestern und morgen (1947) noch einmal das Ufa-Melodram - und Käutner machte einen Omnibus-Film. Dieses Format hat er vielleicht nicht erfunden - aber doch auf deutsche Verhältnisse übertragen.
In jenen Tagen kompiliert sieben Episoden zu einer Art Zustandsbeschreibung des Alltags unter dem Nationalsozialismus, verklammert durch die Odyssee eines Automobils durch die Jahre 1933 bis 1945. Es beginnt mit der sogenannten Machtergreifung im Januar 1933 und endet mit einer Maria- und Josef-Episode in einer zerbombten Stadt. Das Auto mischt sich als Erzähler in die Handlung ein und sagt am Ende die Worte, für die sein Regisseur später immer wieder auch gescholten wurde: »Aber ich habe ein paar Menschen gesehen (...). Die Zeit war stärker als sie, aber ihre Menschlichkeit war stärker als die Zeit.« Käutner war kein Sezierer der NS-Gesellschaft, kein Analytiker, er interessierte sich mehr für das Große im Kleinen, für das Geschichtenerzählen. Aber die Frage, wie und ob man menschlich bleiben kann in einer zutiefst unmenschlichen Zeit, hat ihn immer wieder beschäftigt. Sicherlich war In jenen Tagen historisch betrachtet der erste Film, der nach dem »guten Deutschen« suchte; er war aber auch eine Reaktion auf die von den Alliierten vertretene Kollektivschuldthese. Einen knuffigen, Ravioli mampfenden Adolf Hitler wie in Oliver Hirschbiegels Der Untergang jedenfalls gibt es bei Käutner nicht.
»Die meisten deutschen Filmschaffenden sind sich darüber klar, dass es nicht möglich oder gar erstrebenswert ist, an den geschehenen Dingen und ihren Folgen vorbeizulügen. Sie sind der Meinung, dass man die Traumfabriken endgültig demontieren muss«, hat Käutner in einem »Demontage der Traumfabrik« überschriebenen, 1947 im »Film-Echo« erschienenen Essay geschrieben. Käutner hat, auch als es in Westdeutschland wieder Traumfabriken gab, in seinen Filmen Fragen nach der NS-Zeit gestellt. Buchstäblich tut das in Käutners »Hamlet«-Adaption Der Rest ist Schweigen der aus den USA zurückgekehrte John H. Claudius (Hardy Krüger). Es geht um die Unterstützung, die seine Familie (eine überdeutliche Krupp-Anspielung) der Nazi-Partei angedeihen ließ. In der Zuckmayer-Verfilmung Des Teufels General ist der General Harras als der natürliche Antagonist des Nazi-Regimes angelegt: ein Draufgänger und Trinker, vorlaut (»Prost mit einem leeren Glas - der Führer ist Abstinenzler«), den Frauen heftig zugetan, ein Individualist, der sich nicht in die totalitäre Gesellschaft fügen kann, vielleicht auch nur, weil ihm Hitler zuwider ist. Und dennoch beschreibt der Film ihn als Mitläufer: Der General hat die Rüstungsoffensive der Nazis mitgetragen und rebelliert nun etwas hilflos.
Seinen besten Film zum Thema »Drittes Reich« und immer noch einen der besten Filme über den Zweiten Weltkrieg drehte Käutner 1953: Die letzte Brücke. Ein Film mit einem zutiefst humanistischen Grundton. Eine vollkommen unheroische Geschichte über Verhältnisse, unter denen sich niemand bewähren kann. Und vielleicht der mutigste Film der ganzen fünfziger Jahre. Zu Beginn rückt die Kamera die alte Brücke von Mostar ins Bild: Die Deutschen haben den Balkan besetzt, das ehemals verbündete Italien hat gerade kapituliert, und noch lassen sich die Partisanen in Schach halten. Eine Gruppe von ihnen entführt die Kinderärztin Helga (Maria Schell), um ihre Kranken zu versorgen. Anfangs versucht sie zu fliehen, wann immer sie kann, aber als im Lager Typhus ausbricht, hilft sie den Partisanen aus einem inneren Anliegen heraus. Diskussionen über die Verbrechen der Wehrmacht kannten die fünfziger Jahre nicht, und die Filme beschrieben, wie man sich durch den Krieg organisiert oder gemogelt hatte (die »08/15«-Trilogie), wie ein Kadett gegen seinen unfähigen Vorgesetzten revoltiert (Haie und kleine Fische von Frank Wisbar), oder beschäftigten sich gleich mit dem heroischen Widerstand (Canaris von Alfred Weidenmann). Die andere Seite, den Gegner, zeigen die Kriegsfilme der Dekade selten, und wenn, dann eher als Fratze oder Karikatur. Die Stärke von Käutners Film liegt darin, dass er diesen Partisanen ein authentisches Gesicht gibt - wenn auch in Gestalt von Stars wie Bernhard Wicki und Barbara Rütting. Dass eine Deutsche irgendwie freiwillig bei den Partisanen bleibt, das hatte damals den Ruch von Vaterlandsverrat. In Cannes allerdings hat Die letzte Brücke 1954 den Preis der Jury bekommen, und Käutner wurde zu Hause mit einem Filmband in Gold für die beste Regie ausgezeichnet. Wenn auch der Film selbst eine österreichisch-jugoslawische Koproduktion ohne deutsche Beteiligung, die beiden Hauptdarsteller (Bernhard Wicki und Maria Schell) eigentlich Schweizer waren und das Team zu großen Teilen aus Jugoslawien kam.
Käutner ist ein Meister im Inszenieren von Miniaturen, im Erfinden visueller Symbole, im Einstreuen von Details. In Die letzte Brücke gehört die anrührendste und versöhnlichste Szene nicht Maria Schell, sondern der großartigen Tilla Durieux: Als die Partisanen mit der Ärztin in ein Dorf kommen, wird die »Schwabiza« (wie die Jugoslawen die Deutsche nannten) mit unverhohlenem Hass begrüßt. Auch von einer alten Frau (Durieux), die später der Ärztin aber die Schuhe ihres verstorbenen Sohnes, eines Scharfschützen, gibt. Sie fungiert in ihren ganz kurzen Momenten dramaturgisch als emotionales Pendant zu Schell: denkbar knapp wird hier gezeigt, wie Ablehnung in Hilfe umschlägt.
Die letzte Brücke beginnt mit der Stimme Helmut Käutners, der in diesem Film, wie in vielen anderen auch, eine kleine Nebenrolle spielt, einen Verwundeten. Käutner hat diesen heute eher verpönten Kunstgriff des Off-Kommentars oft genutzt, in In jenen Tagen, aber auch in Film ohne Titel, zu dem er das Drehbuch schrieb und den Rudolf Jugert drehte. Da führt er als Erzähler so etwas wie eine Laborsituation ein, spielt mit den Figuren des Films. Viele der Filme von Helmut Käutner haben einen artifiziellen Ton, decken auch ihre Machart auf. In Wir machen Musik (1942) wendet sich Viktor de Kowa als Komponist, der an einem Klavier sitzt, direkt an das Publikum. Käutner nutzt den Kommentar auch als Illusionsbruch, der das Naturalistische aufhebt. Käutner begann seine Karriere schon als Student; in den späten zwanziger Jahren stand er als Schauspieler auf der Bühne, später dann beim Kabarett. Zusammen mit Kurd E. Heyne und Bobby Todd gründete er die »Nachrichter«, die 1932 mit der Operette »Hier irrt Goethe« einen ihrer größten Erfolge feiern konnten. Im Oktober 1935 wurden die »Nachrichter« verboten, weil sie als destruktiv und zersetzend galten. Man findet Reminiszenzen an Käutners Kabarettzeit immer wieder in seinen Filmen, auch wenn er im Plauderton bittere Wahrheiten verkauft. Kunst sei Schmuggelware, hat er einmal in einem Interview gesagt.
Die kabarettistische Tradition zeigt sich natürlich in vielen Filmen des Adenauerkinos, zum Beispiel in den grandiosen Bänkelgesängen von Mario Adorf und Jo Herbst in Das Mädchen Rosemarie. Käutner blieb es vorbehalten, sie gewissermaßen an ihr Ende zu führen. Der Traum von Lieschen Müller (1961) mit einer mitunter leicht bekleideten Sonja Ziemann in der Titelrolle ist wie eine Revue in Szene gesetzt, mit bonbonbunten Dekorationen, eine Satire auf Aufsteigerträume im Wirtschaftswunderland. Käutner hat sie als eine wilde Collage gestaltet, in der Straßenkreuzer durch die Luft segeln und sich alles irgendwie im Kreise dreht. Man kann diesen Film nur schwer mögen - aber als Vorbote des German Trash der späten sechziger und siebziger Jahre hat er seine Qualitäten.
So wie Der Traum von Lieschen Müller seine Wurzeln im Kabarett hat, hat Käutner immer wieder versucht, an andere Traditionen und Vorbilder anzuknüpfen, auch als das überhaupt nicht opportun war. Das macht auch seine Modernität aus. In Unter den Brücken spürt man in jeder Szene den magischen Realismus des französischen Films der frühen vierziger Jahre. Unter den Brücken ist ein Zeugnis der Verweigerung; die Dreiecksgeschichte zwischen zwei Binnenschiffern und dem jungen Mädchen, das beide lieben, findet völlig unter Ausschluss der zeitgenössischen Realität statt. Der melancholische Film wurde in den letzten Monaten der NS-Zeit gedreht, ins Kino kam er nicht mehr. Noch heute wirken die drei Figuren wie Aussteiger - seinerzeit muss die Weigerung mitzumachen erst recht einen Stachel gehabt haben. Der Produktion Epilog - Das Geheimnis der Orplid, in wenigen Tagen für Artur Brauners CCC gedreht, merkt man den Einfluss des amerikanischen Kriminal- und vor allem: B-Films an. Epilog ist so etwas wie ein Totentanz: eine Bombe an Bord eines Schiffes, eine Gruppe von Passagieren, darunter ein Waffenschieber, die zum Tode bestimmt sind in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Die Handlung kommt völlig konfus daher in diesem Film, dem die Atmosphäre alles bedeutet. Käutner war ein sehr visueller Regisseur, und in Epilog hat er sich ausgetobt. Obwohl der Film ein »Elite-Ensemble« (Gunter Groll) von Schauspielern (Fritz Kortner, Peter Van Eyck, Paul Hörbiger, Irene von Meyendorff) aufbietet, sind sie Käutner eigentlich egal: Die langen Schatten, das ausgeprägte Helldunkel und die Regentropfen auf Deck bedeuten ihm mehr. Ein Film noir aus Deutschland.
Wir machen Musik aus dem Jahr 1942 mit seinem Swing- und Jazz-Soundtrack kommt in den Wortduellen zwischen Viktor de Kowa und Ilse Werner daher wie ein Versuch, in die Fußstapfen großer amerikanischer Screwball-Comedies zu treten und nebenbei ein bisschen von der Frechheit der Tonfilmoperette der Weimarer Zeit zu retten. Durch die Brille unserer postfeministischen Ära gesehen, wirkt er nachgerade subversiv: als Dokument einer Domestizierung. E versus U. Der große Komponist Viktor de Kowa - der hier durchaus an Cary Grant erinnert - überarbeitet die leichte Musik seiner Frau und ehemaligen Schülerin, die mit einer Revue durch die Lande zieht. Die traditionelle Rollenteilung zwischen Mann und Frau steht sichtlich auf dem Kopf.
Käutner hat es geliebt, die Männer von ihrem Sockel zu stoßen. In Romanze in Moll - auch ein Film, dem man den französischen Einfluss anmerkt - gibt es eine fatale Dreifaltigkeit. Der dumpfe Biedermann als Ehemann, der windige Verführer (der allerdings der Einzige ist, der sie wirklich liebt), ein Erpresser, der sie zur Geliebten machen will: Sie alle haben Madeleine auf dem Gewissen. Das Melo beginnt mit dem Bild der toten Frau in einer der großartigsten Eröffnungen der deutschen Filmgeschichte. Man sieht in einer einzigen Einstellung die Leiche auf dem Bett, den Mann (Paul Dahlke), wie er ins Haus kommt, ins Schlafzimmer geht und mit seiner Frau spricht - in seiner Ignoranz merkt er minutenlang nicht, dass Madeleine schon längst tot ist.
Auch Käutners Grosse Freiheit Nr. 7 wirkt heute eher wie die Demontage eines Mythos denn als Hommage. Die Hoffnung des Seemanns und Bänkelsängers Hans Albers, sesshaft zu werden, noch dazu mit einem jungen, schönen Mädchen (Ilse Werner), verpatzt der Film gründlich. Käutner hat die blauen Augen, das Markenzeichen des »blonden Hans«, dermaßen aufdringlich ausleuchten lassen, dass sie nicht nur etwas Stechendes, sondern sogar Parodistisches haben. Die zeitgenössische Faszination für Hans Albers ist nicht immer nachvollziehbar, das Hoppla-jetzt-komm-ich-Image des Schauspielers jedenfalls ist in diesem Film an seinem Tiefpunkt angelangt. In der bösesten Szene richtet er dem Mädchen den Tisch für seine Verlobungsfeier, während sie doch längst bei einem anderen (Hans Söhnker) im Bett liegt.
Als Helmut Käutner starb, am 20.4.1980, da war den Nachrufen auch eine gewisse Ratlosigkeit anzumerken. »Im Grunde konnte er sich nie von der früh geübten und virtuos ausgeübten Sklavensprache seines filmischen Symbolismus freikaufen«, verdammte ihn Karsten Witte in der »Frankfurter Rundschau« (später sollte der Autor in einem der wirklich großen Essays über Käutner differenzierter urteilen). Verschiedentlich war von Käutner als einer »Vaterfigur« des deutschen Films die Rede, der in einer »Art Mittelalter der deutschen Kulturgeschichte« (W. Wiegand in der »FAZ«) gearbeitet hat. Aber eigentlich schlägt der Begriff Vaterfigur vollkommen fehl. Weder wollte Käutner eine sein, noch hat ihn jemand als solche gesehen. Wer hat sich an ihm orientiert, wer hat sich an ihm gerieben? Schon gar nicht die Filmemacher, die im Zuge des Oberhausener Manifests in den späten sechziger Jahre mit Verve an die entstehenden Fördertöpfe drängten: Mit dem Slogan »Opas Kino ist tot« hat man auch jede Auseinandersetzung mit dem Kino jener Jahre beendet. Es gehört zu den tragischen Erbschaften des deutschen Autorenfilms der sechziger und siebziger Jahre, dass er sich so vehement abgegrenzt hat gegen alles, was vorher war. 1961 hat Käutner für seinen Film Schwarzer Kies, eine der schonungslosesten Alltagsbeschreibungen des Adenauerkinos, den »Preis der jungen Filmkritik« - dahinter standen die Autoren der Zeitschrift »Filmkritik« - für die »schlechteste Leistung eines bekannten Regisseurs« erhalten.
Die Generation Käutners wanderte in den sechziger Jahren allmählich ins Fernsehen ab. Das muss nicht in jedem Einzelfall tragisch sein, und vielleicht ist, sagen wir einmal, ein Alfred Weidenmann tatsächlich besser beim »Kommissar« aufgehoben gewesen als im Kino. Aber die Berührungsängste, die der junge deutsche Film der »Altbranche« gegenüber hatte, auch gegenüber den Handwerkern, Kameraleuten, Architekten, hatte sicherlich fatale Auswirkungen. Einzig Fassbinder hat mit Altstars wie Karlheinz Böhm oder Conny Froboess gearbeitet. Käutner jedenfalls konnte mit dem jungen deutschen Film wenig anfangen, mit Kluges Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos sei es ihm ähnlich gegangen wie der Titel des Films, hat er einmal in einem Interview gesagt. Auch Käutner hat in seinen letzten Jahren für das Fernsehen gearbeitet, als Regisseur, aber auch als Darsteller (etwa in Hans Jürgen Syberbergs Karl May aus dem Jahr 1974) - so, wie er Jahrzehnte zuvor seine Karriere begonnen hat.
Erst in den letzten Jahrzehnten, beginnend mit Claudius Seidls Buch über den deutschen Film der fünfziger Jahre, hat ein Umdenken eingesetzt. Man hat Filme aus der vergessenen Dekade wiederentdeckt - und, vor allem: ernst genommen. Über die grandiose Käutner-Komödie Die Zürcher Verlobung zu lachen, gehörte bisher zu den guilty pleasures hartgesottener Filmhistoriker. In diesen Tagen, zum Geburtstag, kann man dem unterschätzten Regisseur in einigen Städten im Kino begegnen. Sehen Sie Käutner!
Im Kino
Zum 100. Geburtstag zeigen Kinos in verschiedenen Städten umfangreiche Käutner-Programme. Im Münchner Filmmuseum hat Mitte Februar eine komplette Retrospektive seiner Kinofilme und einiger seiner Fernseharbeiten begonnen, die noch bis in den Juni läuft. Das Zeughauskino in Berlin eröffnet seine Werkschau am 14.3. mit Kleider machen Leute (1940). Viele Filme sind von Einführungen begleitet: Vor der Projektion von Die Rote hält Hans Helmut Prinzler einen Vortrag zu Käutners 100. Geburtstag. Die Rote war nach der Premiere 1962 kaum zu sehen, da die Rechteverhältnisse nach dem Zusammenbruch der Produktionsfirma unklar waren. Im Kino des Deutschen Filmmuseums Frankfurt läuft ab März eine Auswahl von zehn Filmen.
Gedruckt
Die Literatur über Käutner ist nicht sehr umfangreich. Im Verlag Volker Spieß ist 1992 in der edition Filme ein Käutner-Band erschienen mit einem Essay von Karsten Witte: »Im Prinzip Hoffnung«. Im CineGraph-Lexikon hat sich Georg Seeßlen mit der »Methode Käutner« auseinandergesetzt.
auf DVD
Bei Transit-Film sind einige von Käutners frühen Filmen erschienen: Unter den Brücken, Wir machen Musik und Grosse Freiheit Nr. 7.
Kinofilme
Frau nach Maß (D 1939/40) | Kitty und die Weltkonferenz (D 1939) | Kleider machen Leute (D 1940) | Auf Wiedersehen, Franziska! (D 1940/41) | Anuschka (D 1941/42) | Wir machen Musik (D 1942) | Romanze in Moll (D 1942/43) | Große Freiheit Nr. 7 (D 1943/44) | Unter den Brücken (D 1944/45) | In jenen Tagen (D 1946/47) | Der Apfel ist ab (D 1948) | Königskinder (BRD 1949/50) | Epilog (BRD 1950) | Weiße Schatten (BRD 1951) | Käpt'n Bay-Bay (BRD 1952/53) | Die letzte Brücke (Poslednji Most, Ö 1953/54) | Ludwig II. (BRD 1954/55) | Des Teufels General (BRD 1954/55) | Bildnis einer Unbekannten (BRD 1954) | Himmel ohne Sterne (BRD 1955) | Ein Mädchen aus Flandern (BRD 1955/56) | Die Zürcher Verlobung (BRD 1956/57) | Der Hauptmann von Köpenick (BRD 1956) | The Restless Years (Zu jung, USA 1957/58) | Monpti (BRD 1957) | Stranger in my Arms (Ein Fremder in meinen Armen, USA 1958/59) | Der Schinderhannes (BRD 1958) | Die Gans von Sedan (Une fleur au fusil, BRD/Frankreich 1959) | Der Rest ist Schweigen (BRD 1959) | Schwarzer Kies (BRD 1960/61) | Das Glas Wasser (BRD 1960) | Der Traum von Lieschen Müller (BRD 1961) | Die Rote (La Rossa, BRD/Italien 1962) | Das Haus in Montevideo (BRD 1963) | Lausbubengeschichten (BRD 1964) | Die Feuerzangenbowle (BRD 1970)
Fernsehfilme
Annoncentheater. Ein Abendprogramm des Deutschen Fernsehens im Jahre 1776 (BRD 1962) | Vorspiel auf dem Theater (BRD 1963, Kurzfilm) | Das Gespenst von Canterville (BRD 1964) | Romulus der Große (BRD 1965) | Robin Hood, der edle Ritter (BRD 1965/66) | Leben wie die Fürsten (BRD 1965/66) | Die Flasche (BRD 1965) | Stella ( BRD 1966/66) | Die spanische Puppe (BRD 1966/67) | Valentin Katajews chirurgische Eingriffe in das Seelenleben des Dr. Igor Igorowitsch (BRD 1967) | Bel Ami (BRD 1967/68) | Tagebuch eines Frauenmörders (BRD 1968/69) | Einladung ins Schloß oder Die Kunst das Spiel zu spielen (BRD 1969/70) | Christoph Kolumbus oder Die Entdeckung Amerikas (BRD 1969) | Anonymer Anruf (BRD 1970) | Die seltsamen Abenteuer des geheimen Kanzleisekretärs Tusmann (BRD 1971/72) | Die gefälschte Göttin (BRD 1971) | Ornifle oder Der erzürnte Himmel (BRD 1972) | Stiftungsfest (BRD 1973/74) | Die preußische Heirat (BRD 1973/74) | Margarete in Aix (BRD 1975/76) | Mulligans Rückkehr (BRD 1977/78) © 1995-2015 epd (Evangelischer Pressedienst). Nutzung nur im Rahmen der schriftlichen Vereinbarungen.
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