Nahaufnahme von Zar Amir Ebrahimi
Zar Amir Ebrahimi in »Tatami« (2023). © Judo Production LLC / Juda Khatia Psuturi
In ihrer Heimat Iran war Zar Amir Ebrahimi schon ein TV-Star, als ein Sextape-Skandal ihre Karriere beendete. Sie floh nach Paris, fing von vorn an, baute sich eine neue Karriere auf und ist heute international erfolgreich: als Schauspielerin, Produzentin und jetzt auch als Regisseurin
Judoka Leila Hosseini kniet auf der Matte. Der iranische Judo-Verband hat ihr befohlen, unter einem Vorwand aus dem Wettkampf um die Weltmeisterschaft auszusteigen, damit sie nicht gegen eine israelische Sportlerin antritt. Denn eine Niederlage gegen eine Konkurrentin aus dem Land der Erzfeinde kann das Regime nicht riskieren. Leila hat sich allen widersetzt, aber jetzt hat sie einfach keine Kraft mehr. Sie ist geschwächt, verletzt, ausgelaugt. Ihre Trainerin Maryam Ghanbari (Zar Amir Ebrahimi) beobachtet sie heimlich aus der Distanz. Auch sie wurde unter Druck gesetzt. Kurz zuvor haben sich beide Frauen noch erbittert gestritten, einander beleidigt und geschlagen. In Maryams beinah reglosem Gesicht – eine Nahaufnahme in kontrastreichem Schwarz-Weiß – spiegelt sich ihr innerer Kampf. Wahrt sie die Distanz, lässt sie Leila im Stich und hat so eine Chance, nach der Rückkehr in den Iran begnadigt zu werden? Oder riskiert sie alles, auch das Leben ihrer Angehörigen, und unterstützt ihre Judoka? Maryam entscheidet sich für ihre Athletin. Sie rennt zur Matte, wo sie den Blicken der iranischen Agenten ausgeliefert ist. Sie feuert Leila an und schreit sich die Seele aus dem Leib.
Dieses Ringen mit sich selbst, dieses beherrschte, würdevolle und manchmal strenge Antlitz, hinter dem eine Wut auf all die Ungerechtigkeit dieser Welt brodelt, ist das Markenzeichen der 1981 im Iran geborenen Zar Amir Ebrahimi. Das gilt auch für die Rolle, mit der ihr 2022 der internationale Durchbruch gelang, für die sie aber gar nicht vorgesehen war. Regisseur Ali Abbasi (»Border«) engagierte sie zunächst als Casting Director für seinen Film »Holy Spider«. Für die Figur der fiktiven Journalistin Rahimi, die im iranischen Mashhad auf eigene Faust einen Serienkiller aufspürt, der Prostituierte ermordet, erschien ihm Ebrahimi als zu weich und freundlich. Zwei Wochen vor Drehbeginn in Jordanien sprang die iranische Hauptdarstellerin aus Angst vor Repressalien unerwartet ab. Ebrahimi platzte der Kragen, und in ihrem Wutanfall erkannte Abbasi seine neue Hauptdarstellerin. Ein Glücksgriff, für beide Seiten. Als Investigativjournalistin Rahimi glänzt Ebrahimi in allen Facetten. Stur und unbeirrbar wehrt sie sich gegen männliche Bevormundung. Trotzdem muss sie sich der patriarchalen Macht fügen und wird beinah Opfer der körperlichen Überlegenheit des Mörders. Wut, Härte, Todesangst, Mut – für diese Bandbreite wurde Ebrahimi bei den Filmfestspielen in Cannes als beste Darstellerin gewürdigt, und ihre zweite Schauspielkarriere nahm auch international Fahrt auf.
Ihre erste Karriere im Iran endete 2006 abrupt. Sie verkörperte eine der populärsten Figuren in der Erfolgsserie »Nargess«, die rund 70 Prozent der iranischen Bevölkerung verfolgten, und galt als vielversprechende junge Schauspielerin. Gerade hatte sie noch eine Nebenrolle in Abbas Kiarostamis »Shirin« gespielt. Nach Ausstrahlung der letzten Episode von »Nargess« tauchte aber ein Amateurfilm auf, der Ebrahimi und ihren damaligen Partner bei einvernehmlichem Sex in einem schummrigen Zimmer zeigt. Der Film verbreitete sich in rasender Geschwindigkeit, bis zu 100 000 Kopien sollen zwischenzeitlich unter der Ladentheke verkauft und im Netz im Umlauf gewesen sein. Ebrahimi wurde zum Mittelpunkt des ersten Sextape-Skandals der islamischen Republik. Sie wurde verhaftet und verhört. Der damals amtierende Präsident Mahmud Ahmadineschād bezeichnete die Causa und vor allem Ebrahimi als »nationale Schande«. Ihr Ex-Freund und Protagonist des Softsexfilms, der das Video verbreitet hatte, erhielt eine mehrjährige Haftstrafe, aus der er nach zwei Monaten bereits entlassen wurde. Bis heute ist er in der Filmbranche im Iran tätig. Sie wurde mit einem zehnjährigen Berufsverbot bestraft. Formal angeklagt wurde sie zunächst nicht, weil sie unter starkem Druck nicht gestand. Als Freunde sie über neue Ermittlungen informierten und ihr 99 Peitschenhiebe und Haft drohten, floh sie am 1. März 2008 über Aserbaidschan nach Paris. An das genaue Datum erinnert sie sich nostalgisch auf ihrem offiziellen Instagram-Account mit einem Selbstporträt, das sie in einem Feld roter Mohnblumen noch im Iran zeigt. Ihre Instagram-Reichweite von aktuell 636 000 Followern nutzt sie immer wieder für politische Statements. Besonders seit der Ermordung von Mahsa Amini im September 2022 teilt sie News und Reels, die Protestierende im Iran unter Lebensgefahr aufgenommen haben. Sie wirbt für Unterstützung und setzt sich für das Schicksal prominenter Dissident*innen wie Taraneh Alidoosti ein; immer wieder betont sie, wie wichtig es ist, die Demokratie zu schützen und das eigene Wahlrecht zu nutzen.
Die Flucht nach Frankreich markierte einen harten Schnitt für die damals erst 27 Jahre alte Zar. Sie musste Kontakte in die Branche knüpfen, eine neue Sprache lernen. Interviews zeigen, dass sie mittlerweile neben ihrer Muttersprache Farsi auch Französisch und Englisch nahezu perfekt beherrscht. Seit den Dreharbeiten zu »Morgen sind wir frei« ist auch ein wenig Deutsch hinzugekommen. 2009 trat sie wieder in Theaterstücken und Kurzfilmen auf, die erste Hauptrolle erhielt sie aber erst 2016 im schwedischen Drama »Bride Price vs. Democracy«. Bei der Gestaltung ihrer Figuren greift sie meist auf persönliche Erfahrungen zurück. In »Teheran Tabu« (2017) spielt sie die schwangere und folgsame Zahra. Als studierte Literaturwissenschaftlerin bewirbt sie sich heimlich um einen Job, den sie ohne Genehmigung ihres Mannes nicht antreten darf, und zerbricht schließlich an diesen Widersprüchen. Trotz der Verfremdung durch das Rotoskopieverfahren ist Ebrahimis Präsenz unverkennbar. Auch ihrem digitalen Double ist die innere Verzweiflung an den äußeren Zwängen und Erwartungen ins Gesicht geschrieben. Ein Gesicht, gleichermaßen unauffällig und markant, dessen Lippen immer eine Spur von Trotz umspielt.
Auch nach ihrem Durchbruch in »Holy Spider« ist sie den iranischen Geschichten treu geblieben. In Noora Niasaris Debüt »Shayda« spielt Ebrahimi eine nach Australien emigrierte Exil-Iranerin, die versucht, sich selbst und ihre Tochter vor einem gewalttätigen Ehemann zu retten. In Steffi Niederzolls Dokumentarfilm »Sieben Winter in Teheran« lieh sie der 2014 hingerichteten Reyhaneh Jabbari ihre Stimme, für Mehran Tamadons »My Worst Enemy« improvisierte sie die Rolle eines iranischen Sicherheitsagenten. Um die Verhör- und Foltertaktiken überzeugend darzustellen, griff sie auf ihre eigenen traumatischen Erfahrungen zurück. Die Geschichten aus dem Iran lassen sie nicht los, das hat sich auch mit der Annahme der französischen Staatsbürgerschaft 2017 nicht geändert. »Ich habe diese Stimme und weiß, wie ich sie nutzen kann. Ich kann nicht hier sitzen und dabei zusehen, wie diese Menschen leiden, ohne etwas dazu zu sagen«, erklärte sie selbst in einem Interview bei den Filmfestspielen in Locarno ihre Motivation.
Da sie schon im Iran aufgrund des Berufsverbots gezwungen war, sich umzuorientieren, ist Ebrahimi auch in anderen Gewerken wie Filmschnitt, Regie und Produktion versiert. Sie drehte Dokumentationen und kuratierte Programme für die persische Sparte der BBC. 2019 gründete sie ihre eigene Produktionsfirma Alambic Production. Es scheint, als wolle sie das Beste aus ihrer zweiten Chance machen. Im eingangs erwähnten »Tatami«, der einen Judowettkampf in einen politischen Thriller verwandelt, ist sie nicht nur Darstellerin. Es ist ihr Debüt als Co-Regisseurin an der Seite von Guy Nattiv (»Golda«) und markiert die erste filmische Zusammenarbeit zwischen einem israelischen und einer iranischen Filmschaffenden.
Derzeit ist außerdem das Biopic »Honor of Persia« in Planung, bei dem Ebrahimi erstmals als alleinige Regisseurin fungieren und ihre eigene Geschichte erzählen wird. Ebrahimi ist eine Kämpferin, und all der Schmerz, die Trauer und Verletzungen haben sie zu der gemacht, die sie heute ist. Sie selbst scheint das mittlerweile positiv sehen zu können, wie sie im Gespräch mit der »New York Times« verriet: »I sometimes think, for an actress, I'm happy to have this much pain in my life.«
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