Marilyn forever
Ana de Armas in »Blond« (2022). © Netflix
60 Jahre nach ihrem Tod umgibt Marilyn Monroe immer noch ein Geheimnis. Viel ist über sie geschrieben worden, viele Darstellerinnen haben sie verkörpert. Jetzt startet auf Netflix die Verfilmung eines Marilyn-Romans von Joyce Carol Oates. In »Blond« spielt Ana de Armas die glamouröse Ikone
Es ist das berühmteste Bild der berühmtesten Frau der Welt: Marilyn Monroe im weich fließenden elfenbeinweißen Kleid über einem Subway-Belüftungsschacht in der New Yorker Lexington Avenue. Vergnügt strahlend genießt sie den kühlenden Luftzug, der ihre platinblondierten Locken aus dem Gesicht weht und den federleichten Georgette-Rock nach oben flattern lässt, um ihre schönen Beine in den hohen Stilettos freizugeben. Doch was aussieht wie ein schwerelos glücklicher und spontaner Moment, ist – wie so vieles im Leben von Marilyn – das Ergebnis harter Arbeit. Stundenlang musste sie in jener Nacht bei den Dreharbeiten für Billy Wilders »Das verflixte 7. Jahr« immer wieder aufs Neue posieren, begleitet vom Johlen einer gaffenden Meute: 1500 meist männliche Schaulustige sollen damals darauf gehofft haben, einen Blick auf ihr weißes Unterhöschen zu erhaschen, darunter 150 mehr oder weniger professionelle Fotografen. »Sie fröstelt mitten im New Yorker Sommer, als der U-Bahn-Wind ihren Rock hochwirbelt, wie der stoßweise Atem eines Liebhabers«, beschreibt Joyce Carol Oates die Szene in »Blond«, dem fast tausendseitigen Buch über Marilyn, das sie ausdrücklich als Roman und nicht als Biografie bezeichnet.
Aus heutiger Sicht ist die Szene ein Fall für Intimacy Coaches und MeToo-Beauftragte. Tatsächlich hat die durch den Harvey-Weinstein-Skandal ausgelöste Flutwelle wesentlichen Anteil daran, dass Andrew Dominik das Buch von Joyce Carol Oates, das ihn, seit es 2000 erschienen ist, als Filmstoff reizte, jetzt endlich verfilmen konnte. Vorher habe sich niemand dafür interessiert, was es für eine Frau bedeutet, durch den Hollywood-Fleischwolf gedreht zu werden. Nach allem, was zu hören ist, unter anderem von der begeisterten »Blond«-Autorin, soll es die erste dezidiert feministische Interpretation des Mythos Marilyn sein. Mit der Schriftstellerin trennt nun wohl auch der Regisseur zwischen der Rolle und der Person, zwischen dem, was Marilyn denkt, und dem, was über sie gedacht wird. Der Mythos als Rolle: »Ich habe Marilyn Monroe gespielt«, sagt Ana de Armas doppeldeutig im Trailer, »Marilyn existiert nicht. Wenn ich aus meiner Garderobe komme, bin ich Norma Jeane. Sobald die Kamera läuft, bin ich sie.« Und Truman Capote beschreibt eine Szene, in der er sie nach langer Abwesenheit in der Restaurant-Toilette vor dem Spiegel in den eigenen Anblick versunken vorfand. Auf seine Frage, was sie denn da tue, habe sie geantwortet: »Looking at her‹.« Nacherzählt ist diese Szene in dem Dokumentarfilm »Love, Marilyn«, der aus ihren eigenen Äußerungen und denen von Freunden, Bekannten und Berühmtheiten kompiliert ist. Viele Hinweise gibt es darin, wie sie die Kunstfigur Marilyn akribisch erschuf, mit der gehauchten Stimme, dem lasziven Zwinkern eines Auges und den eng auf den kurvigen Leib geschneiderten Kleidern. Anhand des Buchs »The Thinking Body« studierte sie, wie man läuft, »als wäre der Kopf mit einem Faden an einer Wolke befestigt«. »Alle wollen Marilyn«, stellt sie einmal fest, »doch sobald sie begreifen, dass ich nicht sie bin, wenden sie sich ab!« Auch die Arte-Dokumentation »Marilyn – Made in Hollywood«, die ab 2. Oktober online abrufbar ist, stellt diesen Widerspruch in den Mittelpunkt, zwischen der bodenständigen Norma Jeane von nebenan (mit der furchtbaren Kindheit in wechselnden Kinderheimen und Pflegefamilien) und der glamourösen Ikone, die Männer wie Frauen zum Träumen bringt und vom Hollywoodsystem erdrückt wird.
Gibt es irgendjemanden in der Welt, zumindest im westlichen Teil davon, dem der Name Marilyn Monroe nichts sagt? Der ihr Gesicht nicht kennt? Von ihrem Geheimnis nicht fasziniert ist? Von all den Widersprüchen, zwischen Glamour und Zerbrechlichkeit, Selbstbewusstsein und Zweifeln? Von ihrer inneren Einsamkeit inmitten der Massen ihrer Bewunderer? Der nicht schaudert angesichts ihres geheimnisumwobenen frühen Todes? Auch 60 Jahre nach ihrem rätselhaften Ende ist die Faszination ungebrochen, wird der Mythos immer wieder aufs Neue befeuert. 2012 war Marilyn in schwarzem Pullover mit weißer Geburtstagstorte das Postermotiv der 65. Filmfestspiele von Cannes, als »ewige Ikone«, deren Grazie, Geheimnis und Verführungskraft bis heute zeitlos wirken. Jüngste Auswüchse dieses Kultes haben sich kurz hintereinander in diesem Frühjahr zugetragen: Andy Warhols »Shot Sage Blue Marylin«, das 1964 posthum entstandene Siebdruckporträt in Pink, Gelb und Hellblau, wurde im New Yorker Auktionshaus Christie's für 195 Millionen Dollar versteigert, die höchste Summe, die jemals für ein Kunstwerk aus dem 20. Jahrhundert erzielt wurde, 16 Millionen Dollar mehr als der vorherige Rekordhalter, Picassos »Frauen von Algiers«. Kurz zuvor hatte die Reality-TV-Celebrity Kim Kardashian für Schlagzeilen gesorgt, weil sie sich für eine Met-Gala in das berühmte glitzernde Nichts gezwängt hatte, das Marilyn einst getragen hatte, als sie Präsident John F. Kennedy zum 45. Geburtstag ihr berühmtes Ständchen hauchte, ein Akt der Emulation, den auch das International Council of Museums rügte: Historische Kleidungsstücke sollten generell nicht getragen, sondern für die Allgemeinheit bewahrt und geschützt werden.
Kein Zweifel, der Mythos lebt und wird ständig weiter genährt. Immer neue Bücher reihen sich in die bereits Hunderte Titel umfassende Bibliografie ein, Berichte und Analysen von Freunden und Liebhabern, von Journalisten, Wissenschaftlern, Historikern, Psychoanalytikern, aber auch von berühmten Schriftstellern wie Norman Mailer oder Truman Capote. Immer neue Spielfilme und Dokumentationen beschäftigen sich mit dem Star aus den Fünfzigerjahren, schon lange vor ihrem 100. Geburtstag am 1. Juni 2026 rüsten Mediatheken und Streamingdienste auf. So ist auf Netflix (wo auch »Blond« demnächst zu sehen sein wird) die Dokumentation »The Mystery of Marilyn Monroe: The Unheard Tapes« von Emma Cooper abrufbar, die im Wesentlichen auf Erkenntnissen beruht, die der irische Autor Anthony Summers zwanzig Jahre nach Marilyns Tod in Hollywood zusammengetragen und bereits 1985 in dem Buch »Goddess – The Secret Lives of Marilyn Monroe« veröffentlicht hat. Einzig neu ist, dass seine Recherchen jetzt auch zu hören sind, in extrem verrauschten Tonaufnahmen, die von Darstellern in nachgestellten Interviewszenen lippensynchron illustriert werden. Eigentlich wollte Summers damals drei Wochen recherchieren, blieb aber drei Jahre dran und hat mit über 1000 Menschen aus dem Umfeld der Monroe gesprochen. Sein Fazit: keine haltbaren Indizien für einen Mord, aber eine großangelegte Vertuschungskampagne aus dem Umfeld der Kennedys. Kaum wurde ihr Tod bekannt, sammelten FBI-Leute schon alle Fotos und Dokumente ein, die unziemliche Verbindungen mit dem Präsidenten und seinem Bruder Robert Kennedy hätten belegen können, über die damals viel spekuliert wurde, erst recht nachdem Monroe 1962 im Madison Square Garden beim Singen von »Happy Birthday, Mr. President« vor vierzig Millionen Amerikanern quasi öffentlichen Sex mit JFK hatte, wie die Kolumnistin Dorothy Kilgallen damals schrieb. Nur ein einziges Foto gibt es noch, in dem sie mit beiden Kennedys zu sehen ist – nach dem legendären Geburtstagsständchen, vor einem Bücherregal stehend, Monroe verhalten zurückgenommen, die Kennedys sorgsam darauf bedacht, ihre Gesichter nicht in die Kamera des Regierungschronisten zu halten. Auch dieses Foto birgt verborgene Wahrheiten.
Im ZDF ist der Fall Monroe im Frühjahr der sechste Beitrag der »Cold Case«-Reihe gewesen. Nach Rosemarie Nitribitt, Ramses III., König Richard III., van Gogh und einem Mitglied der Medici-Familie ermittelt die als »Tatort«-Kommissarin bekannte Florence Kasumba zusammen mit Rechtsmedizinern und Kriminalpsychologen im Todesfall Monroe, der nach lückenhaften polizeilichen Ermittlungen eilig zum Suizid deklariert wurde, aber zwischen Verschwörungsgeraune und Indizienprozess beharrlich als politisch motivierter Mord diskutiert wird. Was geschah wirklich in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1962? Schwer zu sagen, nachdem Organproben, Polizeiakten und Fotos verschwunden sind. Kasumba präsentiert viele Ungereimtheiten, die bereits seit langem kursieren, widersprüchliche Zeugenaussagen, Hinweise darauf, dass sie John und Robert Kennedy lästig und zu gefährlich wurde – woran weniger der Ehebruch erstaunlich ist als die Tatsache, dass der mächtigste Mann der Welt mitten in der Kubakrise mit einer Mätresse aus dem Showbusiness über geheime, weltpolitisch brisante Atomwaffentests plauderte. Weniger bekannt hingegen ist, dass kein Wasserglas am Tatort zu finden war, mit dem Marilyn Monroe rund 50 Tabletten hätte schlucken können, und dass im Magen der Toten keine Tablettenreste vorhanden waren, ein starkes Indiz dafür, dass sie die Überdosis nicht freiwillig oral eingenommen hat. Und dann gibt es da noch eine mysteriöse Kiste mit Dokumenten des Psychiaters Dr. Ralph Greenson, der in der Todesnacht gerufen wurde und später verfügt hat, dass sie erst 2039 geöffnet werden darf, also wenn keiner der Beteiligten mehr lebt und belangt werden kann.
Wahrscheinlich gibt es nichts, das nicht schon über die Monroe gesagt wurde, und trotzdem taucht immer wieder irgendetwas Ungehörtes oder Ungesehenes auf: So fand die Witwe von Lee Strasberg 2007 in seinem Nachlass zwei Kisten mit handgeschriebenen Texten von Marilyn. Die Notizen, Tagebücher, Briefe und Gedichte wurden 2010 unter dem Titel »Fragments« veröffentlicht und waren zwei Jahre später die Grundlage für Liz Garbus' Dokumentation »Love, Marilyn«, die derzeit auf Amazon Prime abrufbar ist und durch die intimen Selbstzeugnisse eine besondere Nähe und Authentizität herstellt. Berühmte Schauspielerinnen wie Uma Thurman, Marisa Tomei, Elizabeth Banks, Ellen Burstyn, Hope Davis, Jennifer Ehle und Viola Davis lesen Texte, die Marilyn in unruhigem Schriftzug verfasst hat, und reflektieren damit auch aus persönlicher Perspektive den Druck, den sie selbst im noch immer männlich dominierten Filmgeschäft erleben. Ergänzt wird die vielstimmige Collage aus Selbstaussagen und Archivmaterialien durch den Blick der Männer, die mit Marilyn Monroe gearbeitet oder gelebt, sie ausgebeutet haben oder ihr verfallen sind, die ihr zwischen bewundernder Anbetung und abschätziger Beurteilung begegnen, Ben Foster springt für Norman Mailer ein, Oliver Platt für Billy Wilder, Adrien Brody für Truman Capote, Paul Giamatti für George Cukor.
In Hollywood wurde Marilyn auf stereotype Rollen als Sexbombe und Golddigger festgelegt, in Filmen mit sprechenden Titeln wie »Blondinen bevorzugt«, »Wie angelt man sich einen Millionär?«, »Machen wir's in Liebe« oder »Manche mögen's heiß«, aus denen sie viel mehr machte, als vorgesehen war. Billy Wilder, der an ihr verzweifelte, bekundete auch, dass das Ergebnis die Mühen mehr als gerechtfertigt habe. Ihr Studio Twentieth Century Fox war nicht daran interessiert, ihr Talent zu entfalten, sondern nur am schnellen Geld, das sich mit ihr gewinnen ließ, ohne sie ansatzweise angemessen daran zu beteiligen. Öffentlich bekannte sie, dass sie gerne in Komödien und Musicals spiele, aber eben nicht nur. Immer wieder bekundete sie ihre Sehnsucht nach ernsthaften, dramatischen Rollen. An dieser Stelle muss entschieden aufgeräumt werden mit dem Bild vom blonden Dummchen, das sich auf den Sex-Appeal reduzieren ließ.
Marilyn Monroe war ihrer Zeit weit voraus und bietet sich darum auch in besonderer Weise an für eine feministische Neuinterpretation, wie Andrew Dominik sie jetzt präsentiert. Sie erkannte die Sackgasse, in der sie sich befand, und tat das Unerhörte, sich dagegen aufzulehnen. Sie brach – damals völlig undenkbar (nur Olivia de Havilland hatte Ähnliches gewagt) – ihren ausbeuterischen Vertrag mit Twentieth Century Fox und ging nach New York, um ihr Talent in Lee Strasbergs Actors Studio weiterzubilden. So wie es moderne Filmfrauen wie die Schauspielerin Reese Witherspoon heute tun, gründete sie schon Mitte der Fünfzigerjahre ihre eigene Produktionsfirma, Marilyn Monroe Productions Inc, mit der sie Joshua Logans »Bus Stop« und »Der Prinz und die Tänzerin« mit Laurence Olivier unabhängig von den Studios produzierte. Als ihr damaliger Ehemann, der Dramatiker Arthur Miller, in den Fokus der Kommunistenhatz geriet, nutzte sie ihren Ruhm, um ihm entschlossen zur Seite zu springen, statt sich wie viele andere feige wegzuducken. Marilyns Widerständigkeit, die Art, wie sie das Studiosystem scheinbar bediente, während sie es in Wirklichkeit trickreich gegen ihre Gegner wendete, führt Elisabeth Bronfen in ihrem einleitenden Essay zum gemeinsam mit Barbara Straumann verfassten Prachtband »Diva – Eine Geschichte der Bewunderung« aus: »Sie zwang ihre mächtigen Kontrahenten zur Kapitulation, indem sie die weibliche Hilflosigkeit, die ihr so zuwider war, perfekt verkörperte. Listig vermochte sie ihre männlichen Partner so zu erschöpfen und erst dann aus dem Vollen zu agieren, wenn deren Kräfte bereits nachgelassen hatten. (...) Gleichzeitig ließ sie die Männer nie darüber im Zweifel, dass ihre Unfähigkeit, sich an den Text zu erinnern, einen bewussten Entschluss darstellte.« Im Widerspruch von extrovertierter Selbstinszenierung und wunder, scheuer Seele bewahrt sie bis heute beharrlich ihr Geheimnis.
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