Kinos: Lockdown 2
»Greyhound: Schlacht im Atlantik« (2020). © Sony Pictures/Apple TV+
In Südkorea, heißt es, hat sich noch niemand im Kino angesteckt. Dort waren die Häuser immer auf. Bei uns ist Lockdown 2. Das heißt: Kinos gehen trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen wieder in die Krise. Und in Hollywood stauen sich die Filme
Eigentlich war es eine Randnotiz, die selbst den lokalen Zeitungen nur eine kleine Erwähnung wert war. Die Stadt Bad Homburg, so war zu lesen, hat ein Winter-Autokino auf den Weg gebracht, das ab Ende November wieder auf dem Parkplatz des Technischen Rathauses spielen soll. Schon während der ersten Zwangspause der Kinos hat das Autokino dort von Mai bis Juli viel Publikum angezogen. Und jetzt gibt es natürlich einen Heizlüfter dazu.
Nun, Bad Homburg mag gerüstet sein – aber Autokinos sind sicherlich kein Ausweg. Am 2. November haben die Kinos in Deutschland nach einem Beschluss der Bundesregierung und der Ministerpräsidenten der Länder im Zuge des »Lockdown light« wieder geschlossen, zunächst auf vier Wochen befristet. Dass Maßnahmen angesichts alarmierender Infektionszahlen durch das Coronavirus angebracht sind, steht außer Frage. Ob die staatlichen Maßnahmen aber immer die Richtigen treffen, das ist die Frage, die sich vor allem die Kinos stellen, von denen die meisten von Mitte März bis Anfang Juli im Zuge des ersten Lockdowns sowieso geschlossen waren. Obwohl man weiß, dass die Superspreader-Ereignisse eher in privaten Feiern, aber auch in Betrieben und Altenheimen zu suchen waren, treffen die Beschlüsse die Kulturszene, auch Theater sind betroffen, besonders hart. Sie sind dem Kalkül zum Opfer gefallen, einen Großteil der Kontakte der Menschen gerade im Freizeitbereich zu reduzieren – damit Schulen und Kitas weiter geöffnet haben können. Und Büros und Betriebe natürlich auch. Dass Demonstrationen von Corona-Leugnern, die zum großen Teil ohne Maske durch die Städte ziehen, erlaubt werden, gehört zu den Treppenwitzen der Pandemie. Aber das nur nebenbei.
Die Kinos haben schon während des ersten Lockdowns daran gearbeitet, ihre Häuser sicher zu machen, haben investiert und sich Gesundheitskonzepte ausgedacht, wozu in manchen Betrieben auch das elektronische Ticketing gehört, das Infektionsketten nachzuvollziehen hilft. »Wir haben überhaupt kein Verständnis mehr«, so Christine Berg, die Vorstandsvorsitzende des HDF, des größten Kinoverbands, »für das ständige Auf und Ab der ergriffenen Maßnahmen. Seit sechs Monaten arbeiten wir Kinos mit detaillierten Sicherheitskonzepten, großen Räumen, modernen Belüftungsanlagen und ohnehin nur 25 Prozent Auslastungsmöglichkeit. Es gibt weltweit keinen einzigen bekannten Covid-Fall im Kino. Die Kinos übernehmen eine große Verantwortung für ihre Besucher und dennoch nutzt ihnen das überhaupt nichts. Wir sind fassungslos.« Und Christian Bräuer, Vorstandsvorsitzender der AG Kino-Gilde, des Zusammenschlusses der Programmkinos, fügt hinzu: »Auch wenn wir die Notwendigkeit von zusätzlichen Maßnahmen verstehen, sind wir enttäuscht darüber, dass Kultur keine differenzierte Beobachtung gefunden hat.«
Für die Kinos ist das Jahr 2020 das schwärzeste der letzten Jahrzehnte. Auch wenn die Kinozahlen im dritten Quartal (das zweite zählte ja quasi nicht) wieder anzogen – es bleibt ein großes Minus. Zum Stand 30. September konnten die Kinos 59 Prozent weniger Besucher verzeichnen als im Jahr 2019. Und um es in absoluten Zahlen auszudrücken: bis zum 30. September sind 45 Millionen weniger Menschen ins Kino gegangen als im Jahr 2019, gerade einmal 30,2.
Der Neustart der Kinos erwies sich allerdings auch nicht nur aufgrund der beschränkten Sitzplatzkapazitäten als schwierig, sondern auch, weil kassenkräftige Filme zurückgehalten wurden für eine Auswertung in Zeiten, wenn weltweit mehr Kinos spielen. Rund 70 Prozent der Kinos in Deutschland machen ihr Geschäft mit potenziellen Blockbustern. Am spektakulärsten traf es den wiederholt verschobenen Bond-Film »Keine Zeit zu sterben«, der von April auf November und jetzt wieder auf April 2021 verlegt wurde. Andere potenziellen Blockbuster waren Dennis Villeneuves »Dune« und die Avengers-Auskopplung »Black Widow«. Treffen wird es wahrscheinlich auch »Wonder Woman 1984«, der eigentlich Ende diesen Monats starten sollte. Für viele Produzenten, deren Filme durch das Warten beständig an Wert verlieren, sind Streaming-Plattformen ein Ausweg. Disney hatte seinen »Mulan« schon im September auf seiner Plattform Disney+ veröffentlicht, als Premium-VoD-Angebot mit einem Aufpreis von 29,99 Dollar in den USA. Angeblich ist Disney mit der »Premier Access«-Vermarktung dieses Films sehr zufrieden, Zahlen darüber liegen aber keine vor. Auch der neue Pixar-Film »Soul«, der immerhin auf der legendären Cannes-Liste stand, wird nicht in die Kinos kommen, sondern am 25. Dezember ebenfalls bei Disney+ verfügbar sein.
Aber diese Filme sind nur die Spitze eines Eisbergs. Rund 100 Filme dürften verschoben worden sein, teilweise um ein Jahr. Und viele andere sind bereits auf den diversen Streaming-Plattformen gelandet, etwa »Greyhound« mit Tom Hanks, der seit Juli auf Apple TV+ zu sehen ist. Auch »Borat 2« von Sacha Baron Cohen – der Film, in dem sich der schmierige Trump-Anwalt Rudy Giuliani in die Hose greift – war ursprünglich für einen Kinoeinsatz geplant. Doch der hätte spätestens in den USA vor der Wahl – schließlich handelt es sich auch um eine Entlarvung des republikanischen Mobs – im Oktober im Kino sein müssen. Als dies unwahrscheinlich wurde, verkauften die Produzenten den Film an Amazon Prime Video. Für 80 Millionen Dollar, wie es in einem Bericht der »Welt« heißt. Der Streaming-Branche werden Rekordumsätze prognostiziert, die schon im Jahr 2025 im Abobereich bei 100 Milliarden Dollar liegen sollen.
Gezündet hat in Deutschland Christopher Nolans Thriller »Tenet«, der auf ausdrücklichen Wunsch seines Regisseurs einen Kinostart hatte und in Deutschland von immerhin 1,5 Millionen Besuchern gesehen wurde. Und die Besucher schienen wieder Vertrauen in den sicheren Freizeitort Kino gefasst zu haben. Denn am letzten Wochenende vor dem Lockdown am 2. November strömten sie regelrecht in die Kinos; viele Vorstellungen waren ausverkauft. Die Ergebnisse haben sogar, wie die Fachzeitschrift »Blickpunkt:Film« vorrechnete, das schlechteste Wochenende der letzten fünf Jahre vor Corona um 81 Prozent nach Besuchern übertroffen. Zu den Gewinnern dieses Wochenendes zählten der Thriller »Greenland« mit Gerard Butler (insgesamt 220 000 Besucher) und der Kinderfilm »Yakari – Der Kinofilm«, der es auf 100 000 Besucher brachte. Auch Julia von Heinz' in Venedig gezeigter »Und morgen die ganze Welt« konnte immerhin 30 000 Menschen in die Kinos locken und führte an diesem Wochenende die Arthouse-Charts an, vor »Eine Frau mit berauschenden Talenten«, »Schwesterlein«, »Mein Liebhaber, der Esel & Ich«, »Kajillionaire« und »Ema – sie spielt mit dem Feuer«.
Noch gibt es glücklicherweise keine Welle an Kino-Insolvenzen in Deutschland, obwohl die weltweit zweitgrößte Kinokette Cineworld schon vor dem deutschen Lockdown ihre Lichtspieltheater (vorübergehend) geschlossen hatte und der weltweit größte Kinobetreiber AMC ins Schlingern geraten ist. Die deutsche Kinobranche schaut sehnsüchtig nach Südkorea, wo die Kinos trotz Pandemie spielen durften. Durch ein umfangreiches Kontaktverfolgungssystem in dem Land konnte herausgefunden werden, dass sich kein Mensch dort in einem Kino angesteckt hatte.
Mehr als 1,5 Millionen Menschen arbeiten im Kulturbereich, der 100 Milliarden Euro zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt. Auch Kulturstaatsministerin Monika Grütters, als Regierungsmitglied in der Pflicht, befand: »Doch bei allem Verständnis für die notwendigen neuen Regelungen: Für die Kultur sind die erneuten Schließungen eine echte Katastrophe.« Schon während des ersten Lockdowns verabschiedete die Politik Hilfsangebote. Doch Kinobesitzer Hans-Joachim Flebbe, der die CinemaxX-Kinos gründete und heute die Premiummarke »Astor Film Lounge« betreibt, ist in Sachen zukünftige Hilfen skeptisch, wie er in einem offenen Brief zum Ausdruck brachte: »Wenn das genau so eine Mogelpackung ist wie die von Scholz und Altmaier großspurig im März verkündete Überbrückungshilfe, die bei den betroffenen Unternehmen gar nicht – oder nach Überwindung bürokratischer Hindernisse nur in kleinsten Dosen – angekommen ist, kann man keine Hoffnung auf dringend benötigte Hilfe in dieser zweiten Lockdown-Phase setzen.« Nun gibt es auch in den Bundesländern Hilfsprogramme, Bayern etwa hat vor kurzem ein Kulturförderungsprogramm (von 100 Millionen Euro) aufgelegt, ebenso Nordrhein-Westfalen. An die Berliner Politik, auch an Monika Grütters, hat der HDF die Forderung nach einem »Rettungsschirm Kino« gerichtet, der Umsatzeinbrüche und Fixkosten über den November hinaus ausgleichen soll.
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