Kino der Dekadenz: Verwöhnt, verrucht, verdorben

Kirsten Dunst als Partykönigin in »Marie Antoinette« (2006). © Sony Pictures

Kirsten Dunst als Partykönigin in »Marie Antoinette« (2006). © Sony Pictures

Zu viel Champagner, ­groteske Perücken, ­barbarischer Sex, ­Gewalt und mörderische Machthaber. Alles Symptome des ­Niedergangs? Zum Start des historischen Intrigenspiels »The Favourite« ­erkundet Georg Seeßlen das Kino der Dekadenz

Unter Dekadenz wird laut Duden verstanden: ein »kultureller Niedergang mit typischen Entartungserscheinungen in den Lebensgewohnheiten und Lebensansprüchen; Verfall, Entartung«. Das ist ziemlich grob und unterschlägt, dass jede Art von Dekadenz sich etwas auf die eigene Komplexität und Widersprüchlichkeit einbildet. Aber selbst solche Vereinfachung kann in zwei Richtungen hin interpretiert werden. Zum einen sind ursprünglich positive Aspekte im Prozess der Zivilisation so übertrieben und isoliert worden, dass sie ins Negative umschlagen. Was einmal dem gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt diente, wird zum obsessiven Selbstzweck. Etikette. Eleganz. Reflexion. Oder aber: Eine Gruppe in einer Gesellschaft eignet sich die Früchte der Zivilisierung in einem Übermaß und auf Kosten der anderen an, das heißt, kulturelle Codes werden vom ­gemeinschaftlichen Ziel zur Waffe der Distinktion. Eine Oberschicht genießt, was den unteren Klassen nicht nur verwehrt, sondern gar unerklärlich bleibt. Oder auch: Der Fürst kann sich eine aufmüpfige Klasse der Besitzenden nur gefügig halten, indem er sie an seinen Hof bindet, und das Bindemittel ist pure Form. Dekadenz entfaltet sich in verschiedenen Bereichen, auf verschiedenen Feldern.

Schlachtfelder

Sexualität

In ihrer Dekadenz-Form wird sie aus der traditio­nellen »Ordnung der Geschlechter«, aus dem Diskurs der Reproduktion und aus dem Mythos der Natur gelöst und zu einer performativen, experimentellen und künstlerischen Form erhoben. Dekadent wird Sexualität durch ihre Auflösung in Zeichen. Auch die Ordnung der Geschlechter selbst kann zum Dekadenzfall werden: die dekadente Männlichkeit (der Mörder), die dekadente Weiblichkeit (die Abenteurerin), die ­dekadente Zwischenform (die Frau-Maschine, das Mann-Tier). Es mag uns indes etwas sagen, dass in unserer Mythologie und gerade im Film so lange Zeit ­Dekadenz als »Verweiblichung«, Homosexualisierung und geschlechtliche Ambiguität gezeichnet wurde.

Ästhetik

Das Ästhetische entfernt sich von den Aufgaben der Repräsentation, der Kommunikation und der Abbildung, entfaltet – wie etwa im Manierismus – eine Lust an Details, an Groteske, Bewegung und Widersprüchlichkeit; es aktiviert Zerstörerisches wie Zerbrechliches. Und schon hier wird deutlich, dass man unterscheiden muss: zwischen Filmen, die Dekadenz abbilden, meist im Dienst einer »natürlichen« oder traditionalistischen, manchmal auch einer demokratischen oder humanistischen Reaktion, und Filmen, die selbst Dekadenz anstreben, in ihren Sujets wie in ihren formalen Mitteln.

Alltag

Hier erscheint dekadent schon alles, was sich dem Zyklus von Arbeit und Reproduktion, aber auch der Gleichung von Leistung und Ertrag entzieht. Dekadent sind das Flanieren und der »Müßiggang«, dekadent ist die Leidenschaft für Dinge, die »nichts einbringen« oder »nutzlos« sind. Dekadent erscheinen auch die ­Wissenschaft des Mad Scientist, die Kunst, die nicht aus der Passion, sondern aus der Obsession kommt, oder die Übererfüllung von Idealen. Dekadent ist der Alltag, der selbst zum Kunstwerk wird, sei es in der Upper Class wie in Sofia Coppolas ­»Marie Antoinette«, sei es unten wie in der »Truman Show«.

Macht

Dekadenz ist hier eine Form der Entfremdung, zwischen dem Herrscher und den Beherrschten, der Regierung und dem Volk, aber auch zwischen der Form der Herrschaft und ihrer narrativen Legitimierung oder zwischen der weltlichen und der geistlichen Führung. Dekadent mag eine Form der Herrschaft sein, die nicht auf Stabilität, sondern im Gegenteil auf Chaotisierung gerichtet ist, zum Beispiel das endlose Intrigen- und Mörderspiel, und schließlich die »unvernünftige« Herrschaft, die etwa dem Volk mehr abpresst, als es eigentlich zu leisten imstande ist. Dekadent freilich ist auch der Beherrschte, der seine Beherrschung lustvoll annimmt – wie, in aller historischen Obszönität, in Liliana Cavanis »Nachtportier«.

Ökonomie

Als dekadent lässt sich wohl eine Form des Wirtschaftens beschreiben, die die eigenen Grundlagen zerstört und kleptokratische, wenn nicht apokalyptische Ausmaße annimmt. Zweifellos ließen sich Dekadenzerscheinungen ebenso in der Religion, in der Wissenschaft, in der Justiz oder in der Bürokratie aufzeigen. Das Kino jedenfalls hat seit jeher eine Sympathie für Spieler und Betrüger, doch nur, solange sie bereit sind, das unrechtmäßig Erworbene wieder zu verspielen. Letzten Endes erscheinen als dekadent alle Formen von Ökonomie, die als reine Sklavenwirtschaft funktionieren, im alten Ägypten wie im zukünftigen ­»Metropolis«. Dekadent erscheint anders­herum jede Art von reiner Faulheit – welch herrlicher Katalog reicher, sardonischer ­junger ­Nichtstuer im angelsächsischen Kino!

Aufstieg und Fall

In Analogie zum berühmten »kulinarischen Dreieck« der strukturalistischen Ethnologie »Das Rohe – Das Gekochte – Das Verdorbene« ließe sich das zivilisatorische Dreieck entwickeln: Das Barbarische – Das Zivilisierte – Das Dekadente.

Daran ist leicht zu erkennen, dass das Dekadente ebenso als Übersteigerungsfolge des Zivilisierten wie als Rückbindung an das Barbarische zu beschreiben wäre. Dekadente Herrschaft kann sehr barbarisch sein, und dekadente Sexualität setzt leicht barbarische Körperlichkeit frei. Wie gegenüber dem »Verdorbenen«, das Ekelerregendes und zugleich Verfeinertes bedeuten kann, bleibt also auch gegenüber dem Dekadenten unser Verhältnis (sofern wir nicht fundamentalistisch oder ideologisch argumentieren) am ehesten ambivalent. Dekadenz ist immer faszinierend und erschreckend, zugleich schön und grausam. Schon deshalb ist das Kino der ideale Ort für Dekadenz.

Aber die Dekadenz unterscheidet sich von der schieren Perversion. Sie ist sich ihres Übergangsstatus' wohl bewusst, und so ist Dekadenz immer zugleich Kritik am Akt der Zivilisation wie Kritik an der Natur. ­Dekadenz ist in der Regel a-religiös, was freilich nicht verhindert, dass es sowohl ­innerhalb der Religionen Dekadentes gibt als auch Religionen selbst ein Dekadenzstadium erleben können. Helden sind Menschen, die der Dekadenz entgehen. Heimat ist der Ort, an dem Dekadenz abgeschliffen wird. Aber wehe dem Helden, wehe der Heimat, die alle suggestive Dekadenz vernichtet hätten. Denn Dekadenz ist immer auch ein Fenster zur Freiheit. Ein Fenster, keine Tür!

Die Historizität der Film-Plots des Westens folgt dem zivilisatorischen Dreieck fast mechanisch, aber in aller Regel eindimensional: Dem Aufstieg aus der Barbarei zur Zivilisation (der Western) folgen der Verfall, die innere (Horror) und äußere Überstei­gerung (Science Fiction), schließlich: die ­Katastrophe. Und wir begreifen: Jeder historische Übergang beginnt in der Dekadenz, und alles filmische Eintauchen in ein Arrangement von Dekadenzelementen flirrt zwischen ­Nostalgie, Voyeurismus und Kritik. Es ist der sprichwörtliche Tanz auf dem Vulkan.

Das Happy End (ein Notausgang, wie wir von Billy Wilder wissen) besteht darin, dass ein zweistündiger Genuss der Dekadenz beendet wird. Filme, die etwas bedeuten in der Filmgeschichte, wurden in aller Regel von Teilen des Publikums und der Kritik als dekadent bezeichnet.

Hotspots der Dekadenz

Die Filmgeschichte entwickelte im Lauf der Zeit ihre Traumreiche der Dekadenz, die sie bestimmten Orten (Kloster, Bordell, Labor, Bad, Ballsaal), Objekten (Handschuhe, Schleier, Vasen), Gesten (Tanz, Gruß, Mahl, Befehl), bestimmten Stimmen (Lachen, Singen, »Faseln«, Verdammen), Kostümen (das Samtige, das Seidige, das Pelzige und das Glänzende) und Zeiten zuordnete.

Antike

Während Giovanni Pastrones Stummfilm »Cabiria« (1914) mithilfe einer für damalige Verhältnisse sensationellen Filmtechnik das antike Rom noch als Modernisierungsmetapher verwenden konnte, um mit dem Kampf des starken, befreiten Sklaven Maciste die Blaupause des späteren Sandalenfilms zu schaffen – Überwindung der Dekadenz durch den Vitalismus –, war Rom für Hollywood stets der Hort der europäischen Dekadenz, die durch eine bizarre Allianz bezwungen werden musste: christliche Sklaven und römische Militärs. Seit Henryk Sienkiewiczs »Quo Vadis«-Roman seinen erfolgreichen Lauf durch die Filmgeschichte begann (1913 – 1924 – 1951) wird das Christentum immer wieder als Opfer und zugleich Überwinder der römischen Dekadenz beschrieben. Nero, der zur Lyra singt, während er Rom brennen sieht, wurde zu ihrem Sinnbild, von Peter Ustinov in der 1951er-Fassung von »Quo Vadis« so abgründig wie von Dom DeLuise in Mel Brooks' »History of the World« komisch verkörpert.

Nachdem die antike Dekadenz in den »neomythologischen« Sandalen- und Muskelprotzfilmen weidlich ausgereizt worden war (natürlich musste auch Pompeji dort stets wegen seiner Dekadenz untergehen), begannen etliche Regisseure in den siebziger Jahren, sich diesem Sujet anders zu nähern. Federico Fellini mit »Satyricon«, Tinto Brass mit »Caligula« (gefolgt von einer kleinen Welle »dekadenter« Sexploitation-Filme), nur in Pasolinis Antike gab es keine Dekadenz. Später gelang es Ridley Scott mit »Gladiator«, einem Genre die Lust an der ­Dekadenz auszutreiben.

Mittelalter und Renaissance

Im zyklischen Weltbild des westlichen Kinos war mit der Dekadenz des römischen Reiches der Untergang besiegelt, und die Barbaren, die seine Nachfolge antraten, wandelten sich zu den feudalen Herrschern, an deren Höfen sich die Zyklen von Barbarei, Zivilisierung und Dekadenz immer rascher vollzogen – bis hin zur steten Vernetzung von alldem in »Game of Thrones«.

Die hohe Zeit der neuen Dekadenz ist dann die Renaissance mit ihren Knotenpunkten Venedig (der Karneval mit seinen Masken und Morden), ­Florenz und Rom, mit den Machtspielen der Medicis und der Borgias, vor allem Lucrezias, die als Intrigantin, Giftmörderin und, nun ja, Sexbombe die Phantasie der Drehbuchautoren beflügelte. Christian-Jacques »Lucrèce Borgia« mit Martine Carol war 1953 eine europäische Antwort auf die puritanische Obsession Hollywoods. Nicht der Eros scheint dekadent, sondern seine Unterdrückung.

Barock und Roko­ko

Verträge wie in »Der Kontrakt des Zeichners« und Briefe wie in den Verfilmungen von »Gefährliche Liebschaften«, kurzum die Form als Weg zur Macht wie in Stanley Kubricks »Barry Lyndon« – das alles erscheint als neuerliche Krise der Macht, die wie in dem in jeder Hinsicht restaurativen »Scarlet Pimpernel« dadurch aufgelöst wird, dass der Held zwei Gesichter hat, nicht anders als Scaramouche oder Zorro, seine späten Brüder, die aus der Dekadenz einer Herrschaft in die Rebellion gegen sie tauchen.

Faschismus

Dekadenz schien ein Schlüssel zu sein für die Filme über den Faschismus: Luchino Viscontis »Die Verdammten«, Lina Wertmüllers »Pasqualino Settebellezze«, Bertoluccis »Il conformista«, Liliana Cavanis »Nachtportier«, Pasolinis Salò – »Die letzten Tage von Sodom«. In all ihrer Unterschiedlichkeit ähneln sie einander in einer Dekadenz-Mythologie (ein Hauch davon weht noch durch Bob Fosses ­»Cabaret«), die den Faschismus aus einer inneren Befindlichkeit seiner Gesellschaft zu erklären versucht. Die Dekadenz des K.u.K.-Regimes schilderte in einer Reihe von Filmen, aber nie so skandalträchtig-erfolgreich wie in Die große ­Orgie, der ungarische Regisseur Miklós Jancsó. Aber selbst in den Sissi-Filmen spukt etwas von einem dekadenten Versteinern der imperialen Macht (die durch das natürliche Mädchen teilweise aufgelöst wird), und in Viscontis Ludwig II. finden die Filme noch einmal die Schönheit der Dekadenz im König, der sich und der Welt ein Rätsel bleiben will.

Freilich: Mit dem Faschismus endet auch das zyklische Weltbild. Von einer Erlösung durch die Barbarei kann nun nicht mehr die Rede sein.

Das alte und das neue Bürgertum

Viele bedeutende Filme der sechziger und siebziger Jahre entfalteten ihre Wirkung, indem sie die »Dekadenz« der bürgerlichen Gesellschaft parodierten und kritisierten. Das reicht von den großen Werken Buñuels aus dieser Zeit – »Belle de jour« oder »Der diskrete Charme der Bourgeoisie« – über die sezierenden Filme des Claude Chabrol, die erkennen wollen, wie die Mörder Ausdruck ihrer Klasse sind, bis hin zu den »Skandalfilmen«: Marco Ferreris »Das große Fressen«, Bernardo Bertoluccis »Der letzte Tango in Paris«. Zweifellos war Pasolinis »Porcile« der radikalste dieser Filme, die den Untergang der besitzenden Klasse an ihrem eigenen Verhalten demonstrieren wollten.

Zukunft

Das zyklische Weltbild von ­Barbarei, Zivilisation und Dekadenz wirkt in keinem Genre so zentral wie in der Science Fiction. Natürlich durchläuft man mit der »Zeitmaschine« auch eine Reise zur äußersten Dekadenz, in eine Gesellschaft, in der sich die Barbaren die Dekadenten als Nahrung halten, und »Metropolis« ist ein Dekadenzbild, das auf die Veränderung durch einen neuen gesellschaftlichen Pakt wartet – wir sind ideologisch vorgewarnt. Die kommende Dekadenz ist das gentechnisch manipulierte posthumane Wesen, das zur Herrschaft drängt, oder die genetische Selektion wie in »Gattaca«, das sind die Liebesgeschichten zwischen Menschen, ­Bildern und Maschinen (»Her«) und das Parallelleben in einer Simulationswelt (»Matrix«).

Die Emanzipation des Details

Schon früh, in »Cabiria« oder Cecil B. DeMilles Bibel­fantasien, erscheint dem Kino die Verpflichtung, die Dekadenz nicht nur darzustellen, sondern in die eigene Darstellung zu übernehmen. Die Schauwerte lösen sich vom Plot, die Macht und ihre Inszenierung verschwimmen ineinander, das Erotische löst sich im Fetisch auf. Vor allem unter den Händen der europäischen Migranten in Hollywood, Stroheim, Sternberg, Whale, Sirk oder Dieterle, tritt das Filmemachen in der Traumfabrik selbst in ein Dekadenzstadium. Natürlich wird diese Form der erotischen Dekadenz immer wieder zur Metapher auf eine empfindungslose, im Inneren von Angst beherrschte Gesellschaft – das reicht bis hin zu Stanley Kubricks »Eyes Wide Shut« und Ryū Murakamis »Tokyo Decadence«.

Ein Kino der Dekadenz beginnt, vielleicht ganz ähnlich dem Manierismus und den folgenden Erschütterungen der Kunstgeschichte, mit einer formalen Bewegung. Das ist zum einen eine Verlagerung vom Zentrum einer mythischen Narration auf die Peripherie: die Emanzipation des Details, die Kunst der visuellen Abschweifung auf der einen, der Stilisierung und Überhöhung auf der anderen Seite. Und es ist nicht zuletzt die Entfaltung von Farbe, Musik, Räumlichkeit, die das Kino immer dekadenter macht und zugleich nach der barbarischen Reaktion verlangt, bis hin zu jenem Stadium, in dem das Kino mit immer aufwendigeren Mitteln immer weniger zu erzählen weiß.

»Formalismus« ist die eine Variante der Dekadenz. Alfred Hitchcock hat »Rope« scheinbar in einer einzigen Einstellung aufgenommen, was vollkommen der Handlung entsprach, einer »dekadenten« Tat, einem Verbrechen, das keinen anderen Grund hat als sich selbst. Gus van Sant inszenierte Hitchcocks »Psycho« Einstellung für Einstellung nach, und auch hier geht es um eine Dekadenz-Erscheinung: den Verstoß gegen Geschlechter- und Identitätsregeln. Die »Entfesselung der Kamera« ist zugleich Befreiung und Dekadenz, ist sie doch das Instrument, das uns die manieristische Subjektivierung des Geschehens erleichtert. Schließlich ist auch cineastische Empfindsamkeit, die Suche nach Raffinement und Effekt, die das Interesse an Story und Charakteren überlagert, dekadent.

Filmische Dekadenz erschöpft sich also nicht in der Vorliebe für dekadente Sujets, und auch nicht in der Manie (die zwei Jahre Drehzeit für den »Ben Hur« von 1925, Stroheim, der echte Kirschblüten für seinen Set braucht, Kubrick, der 50 Takes von einer Einstellung dreht, in der ein Mann die Straße überquert, Bertolucci, der seine Hauptdarstellerin mit einer Vergewaltigungsszene überrumpelt, Fellinis wochenlange Suche nach »Gesichtern«).

So wie Dekadenz in der Politik eine Entfremdung zwischen Regierung und Alltag ist, mit allen bizarren Rückkopplungen, so ist Dekadenz im Film eine Entfremdung von Form und Inhalt oder von Produktion und Produkt, und auch hier sind die Rückkopplungen das Faszinierendste: Die Passion einer Frau als Folge von Zirkusnummern zu zeigen, wie es Max Ophüls in »Lola Montez« tut, die Opernstruktur in Sergio Leones Western oder das Film-im-Film-Spiel in Truffauts »La nuit américaine«.

Wie in der Dekadenzliteratur ist in der cineastischen Dekadenz aus dem mittlerweile aus der Mode gekommenen geschichtsphilosophisch negativ besetzten Begriff ein positiver Impuls geworden, in einer subversiven Wendung gegen die eigenen Produktionsbedingungen und gegen die Erwartungen des Publikums.

Empörung und Entzücken

Vor beinahe jeder neuen Welle in der Filmgeschichte lässt sich wohl eine Dekadenzphase analysieren; Muster, Sujets, Charaktere, Narrative, Formeln sind verbraucht und lassen sich nur durch Verfeinerung, Selbstreflexion, durch Brechungen des Blicks, Karnevalisierung oder Spiegelungen retten. Die Teile ergeben kein Ganzes mehr, Lust und Angst lassen sich narrativ nicht mehr bändigen und verselbständigen sich im Bild. Der »Verfall«, damit mag sich ein Kreis schließen, ist dabei durchaus auch moralisch-politisch zu begreifen. Das dekadente Kino bricht notwendig und unvernünftig mit dem Konsens, es häuft so sehr »Schlechtes« an, dass es sich nur als Sensation verkaufen kann, und es entzieht sich der politischen Interpretation in einen schillernden Irrationalismus, in dem die Schönheit des Todes, der Gewalt, des Verbrechens, aber auch die Lust der Dummheit, der Ignoranz, des Wahns gefeiert werden. Im Kino der Dekadenz ist der politische Moralist empört und der lüsterne Ästhet entzückt. Und manchmal teilen sich beide dasselbe Augenpaar.

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