Jüdisch werden auf Zeit
»Intrige« (2019). © Weltkino
Es gibt viele Filme über den Holocaust – Was selten in den Blick kommt, ist der »alltägliche« Antisemitismus: Vorurteile und Diskriminierung, die seit Jahrhunderten wirken, selbst noch in Gesellschaften, die sich als aufgeklärt verstehen. Eine Spurensuche anlässlich des Starts von Polanskis »Intrige«
1948 wurde ein Film mit drei Oscars ausgezeichnet, der als eine der ersten Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus im amerikanischen Kino gilt. »Gentleman's Agreement« (Tabu der Gerechten, USA 1947) von Elia Kazan war die Adaption eines populären Romans von Laura Z. Hobson, mit Gregory Peck als Journalist Phil Schuyler Green, der von einem liberalen Magazin beauftragt wird, einen Artikel über Antisemitismus zu schreiben.
Nach wochenlangen Versuchen, einen Aufhänger für den Text zu finden, kommt ihm die erlösende Idee: Er wird sich gegenüber jedermann als Jude ausgeben. »I Was a Jew for Six Months«, das soll seine Titelzeile sein. Umgehend blamieren sich, mit wenigen Ausnahmen, alle, die mit ihm zu tun bekommen. Vor allem das gehobene, sich selbst als aufgeklärt und vorurteilsfrei verstehende Bürgertum, an der Spitze seine Verlobte Kathy, die immer wieder über die »unnötige« Sturheit seines Rollenspiels mit ihm in Streit gerät. Bis sie, die natürlich jeden Antisemitismus strikt verurteilt, ihn verlässt, tief verletzt darüber, dass er sein Berufsethos über ihre Liebe stellt.
Kazans Entlarvung der Selbstgerechtigkeit einer sozialen Elite ist in ihrer Schulbuchhaftigkeit kaum zu übertreffen, so wenig wie Gregory Peck in der Rolle des idealistischen Musterknaben. Heute allerdings stolpert man über einen blinden Fleck, der die Begrenzungen der Selbsterkenntnis, die der Film thematisiert, in seiner eigenen Konstruktion fortsetzt. Damals war offenbar keinem der Beteiligten aufgefallen, dass in einem der Aufklärung über antisemitische Vorurteile gewidmeten Film, zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, nirgends vom Nationalsozialismus, den Konzentrationslagern und der Judenvernichtung die Rede war.
Einer umgekehrten Logik folgt »Focus« von Neal Slavin (USA 2001). Es ist die Logik einer falschen Identitätszuschreibung. Der Personalmanager Lawrence Newman wird von einem Tag auf den anderen benachteiligt, ausgegrenzt und bedroht, weil er sich eine Brille gekauft hat und in den Augen anderer plötzlich jüdisch aussieht. Unter dem Einfluss eines antisemitischen Radiopredigers radikalisiert sich seine Nachbarschaft bis zum Ausbruch physischer Gewalt. Der Stoff weist ebenfalls zurück in die 40er Jahre, auf den gleichnamigen Roman von Arthur Miller, der 1945 erschien. Der Regisseur nutzt visuelle Stilisierungen, um dem Film eine imaginäre Zeitlosigkeit zu geben. Und erzeugt damit ein Gefühl der Angst und des Ausgeliefertseins, das anderen Szenarien des Schreckens gleicht. Genremuster entgrenzen die antisemitische Thematik. Man muss gleichsam eine Brille aufsetzen, um sie wieder scharf zu stellen.
Ähnliches gilt auch für einen dritten amerikanischen Film aus dem gleichen zeitlichen Kontext, Edward Dmytryks »Crossfire« (Kreuzfeuer, USA 1947), ein Film noir über die Aufklärung eines Mordes unter demobilisierten Kriegsheimkehrern. Das Opfer, ein Jude, macht als Täter einen Soldaten verdächtig, der mit antisemitischen Ausfällen Aufmerksamkeit erregt hat. Dmytryks Film richtet den Blick auf den Antisemitismus in der Armee. In der Romanvorlage von Richard Brooks jedoch ging es noch um Homosexualität. Das Drehbuch vertauschte gelenkig das Opferkollektiv, um nicht mit dem Hays Code in Konflikt zu geraten.
Auch deutsche Regisseure inszenieren in den Nachkriegsjahren Filme zum Antisemitismus jenseits des Holocaust, deren Konzeption und Rezeption dennoch nicht aus dessen Kontext zu lösen sind. G. W. Pabsts »Der Prozess« (Österreich 1948) entwickelt am Fall eines angeblichen jüdischen Ritualmords im Ungarn des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Modell des Umschlags eingewurzelter, aus christlichen Quellen gespeister bäuerlicher Vorurteile gegen die Juden in eine aus politischen Motiven aufgepeitschte nationale antisemitische Pogromstimmung. Die Rhetorik eines fortschrittlich gesinnten Verteidigers bringt die auf einem unter Folter erpressten Geständnis beruhende Anklage zum Einsturz. Wie der Studiorealismus der Inszenierung steht dieses Finale im Zeichen eines filmischen Konjunktivs, eines unübersehbaren Als-ob.
Überzeugender gelingt es der DEFA-Produktion »Affaire Blum« (Deutschland 1948) von Erich Engel, die antisemitisch motivierten Irrwege von Polizei und Justiz nachzuzeichnen, die aus fadenscheinigsten Gründen einen jüdischen Fabrikanten als Mörder vor Gericht stellen. Das Drehbuch stützt sich auf einen Magdeburger Justizskandal von 1925/26 und bezeugt eine Verblendung staatlicher Institutionen, die den darin Verstrickten völlig schlüssig, dem Zuschauer unbegreiflich erscheint. Das glückliche Ende mit einem freigesprochenen Angeklagten deutet an, dass für die Zukunft Schlimmeres zu erwarten ist.
An zwei Stummfilmen lässt sich erkennen, welche Freiheiten in der Darstellung des Antisemitismus Filme genießen, die vor dem Nationalsozialismus entstanden sind. Hans Karl Breslauers »Stadt ohne Juden« (Österreich 1924), eine Satire auf den Antisemitismus, wäre nach 1945 unvorstellbar. Nach Straßenunruhen aufgrund der Inflation beschließen Kanzler und Parlament der Republik Utopia, der antisemitischen Agitation nachzugeben und die Juden des Landes zu verweisen. Mit verheerenden Folgen, weil nun das wirtschaftliche Leben erst recht zum Erliegen kommt. Nach einer operettenhaften Intrige, die den von Hans Moser gespielten wildesten Antisemiten und Abgeordneten außer Gefecht setzt, wird der fatale Beschluss zurückgenommen. Eine judenfreie Stadt, so der Film, ist nichts anderes als eine Riesendummheit. Seltsam, wie sich in die projüdische Parabel in aller Unschuld antijüdische Motive wie die wirtschaftliche Dominanz der Juden und ihr internationaler Einfluss eingeschlichen haben.
Der reinste Film zum Thema ist Carl Theodor Dreyers »Die Gezeichneten« (1922). Er erzählt die Geschichte eines jüdischen Geschwisterpaares aus einer Stadt am Dnjepr um 1900; der zum orthodoxen Glauben konvertierte Bruder ist bereits ein erfolgreicher Anwalt in Sankt Petersburg, die Schwester auf der Suche nach einer Existenz jenseits des Schtetl. Beide kehren zurück, sie nach dem Scheitern ihrer Ambitionen, er, um die schwer erkrankte Mutter noch einmal zu sehen – und geraten in ein von einem Agenten der Geheimpolizei angefachtes Pogrom, das in all seiner Brutalität vor unseren Augen abläuft. Das Ende zeigt die Überlebenden auf der Flucht, ein ikonisches Motiv aus der Exodus-Erzählung, das Dreyers Film mit anderen teilt, bis hin zur Untergangsvision am Ende von Aleksandr Askoldovs »Die Kommissarin«, in der die Juden in die Vernichtungslager wandern.
Zum osteuropäischen Kontext gehört auch »Ida« von Paweł Pawlikowski (Polen 2013), in dem eine in einem Kloster erzogene junge Frau vor ihrer Weihe zur Nonne erfährt, dass ihre Eltern Juden waren und im Zweiten Weltkrieg von polnischen Bauern ermordet wurden: ein lakonisches Lehrstück über Geschichte und Identität. Motivisch verwandt und in seiner Heimat hochkontrovers ist »Poklosie« von Wladyslaw Pasikowski (Polen 2012), der das von Polen während der deutschen Besetzung begangene Massaker in Jedwabne aufgreift. Und damit eine bis heute gern verleugnete Facette der nationalen Vergangenheit.
Bedenkt man das Ausmaß des Antisemitismus über Ort und Zeit hinweg, so bleibt seine filmische Darstellung eher dürftig. Sicher auch deshalb, weil die Erinnerungskultur nicht nur in Deutschland durch den Holocaust geprägt ist. Sie lässt für den wieder an Bedeutung gewinnenden Antisemitismus und seine Geschichte vor und jenseits der Vernichtung durch die Schoah nur wenig Raum. Eine wenn auch begrenzte Ausnahme bilden die Filme zur Dreyfus-Affäre, die aktuell durch Roman Polanskis »Intrige« (J’accuse), Zuwachs bekommen haben. Schon Georges Méliès, ein Zeitgenosse, hat 1899 die Schlüsselereignisse der Affäre in nachgestellten Szenen reinszeniert, darunter eine Saalschlacht von Journalisten der gegnerischen Lager vor Gericht. Sie verweist auf die Erregung der Öffentlichkeit, der der Fall Dreyfus seine historische Bedeutung verdankt. Sie wurde nicht zuletzt durch eine antisemitische Propaganda angeheizt, die den Aufstieg Dreyfus’ in den französischen Generalstab skandalisierte.
In Deutschland drehte Richard Oswald 1930 »Dreyfus« mit Fritz Kortner, Heinrich George, Albert Bassermann und Fritz Rasp, einer Starbesetzung, die ihn zu einer überambitioniert wirkenden Aneinanderreihung theatralischer Auftritte verleitet haben mag. Eine amerikanische Verfilmung folgte 1931, eine weitere durch William Dieterle 1937 im Rahmen seines Biopics »Das Leben des Emile Zola«, das den zur Sache gehörenden Antisemitismus freilich ausblendete. Nach 1945 kamen TV-Produktionen von José Ferrer (1957), Ken Russell (1991) und Yves Boisset (1995) hinzu. In Polanskis »J’accuse«, einem Meisterstück historischen Erzählens, hat das Sujet seine schlüssige Kinoform gefunden.
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