Interview: Christian Petzold über seinen Film »Undine«
Christian Petzold. Foto: Marco Krueger
Ihr neuer Film »Undine« verbindet den Mythos der Wasserfrau mit einer Liebesgeschichte im heutigen Berlin. Wie ist das entstanden?
Anfang dieses Jahrtausends gab es mal ein Projekt, bei dem wir einen Omnibusfilm machen sollten, also eine Reihe aufeinander bezogener Kurzfilme verschiedener internationaler Regisseurinnen und Regisseure. Ich hatte damals einen Dialog geschrieben, der nun am Anfang von »Undine« steht. Ein Paar trennt sich, und sie sagt zu ihm: »Du hast gesagt, dass du mich für immer liebst. Wenn du mich verlässt, dann muss ich dich töten.« Da hatte ich den Undine-Mythos schon im Kopf, mir gefiel diese Unerbittlichkeit. Damals fing das mit Dating-Apps wie Tinder und Parship an; ein paar meiner Freunde hatten sich da eingetragen, auf der Suche nach Liebe. Ich konnte das ein Stück weit nachvollziehen. In einem gewissen Alter ist es nicht mehr so einfach, neue Leute kennenzulernen wie etwa als Student früher, weil man so ein bisschen raus ist aus dem Sozialleben, vielleicht auch schon die erste Ehe hinter sich hat. Also kriegt man da von einer Agentur Angebote. Und lernt jemanden kennen und mag die Person, aber dann irgendwann kommt eine Stimme im Kopf, die einem einflüstert, dass es womöglich noch etwas Besseres gibt. Und diesen Markt der Gefühle, den unterbricht Undine mit ihrem Satz. Das fand ich toll, deswegen hatte ich das damals so geschrieben.
Aber aus dem Projekt wurde nichts?
Nein. Und ich habe dann Jahre später »Transit« gedreht und dabei Paula Beer und Franz Rogowski kennengelernt und zugleich die beiden einander. Ich war total beseelt, so muss ich es wirklich nennen, beseelt vom gemeinsamen Spiel dieser beiden vor der Kamera. Ich dachte, die spielen gar nicht für uns, die sind wie für sich. Da war sofort eine Körpersprache zwischen den beiden, ein Respekt und ein Vertrauen. Etwas, das sich selbst genügt. Eine Choreografie und Sätze und Zärtlichkeiten, die sie weder für mich noch für das Publikum gemacht haben. Das war der beseelte Moment. Und ich fand es traurig, dass Paulas Filmfigur schließlich im Meer ertrinkt und er am Gestade zurückbleibt und darauf wartet, dass sie als Tote oder Schiffbrüchige wiederkehrt. So entstand diese Sentimentalität und Melancholie am Ende der Drehzeit, nicht länger zusammenbleiben und den beiden noch ein paar Wochen zuschauen zu können. Also holte ich dieses alte Projekt aus der Schublade und erzählte ihnen diesen Dialog, den sie gleich toll fanden. Ich fing an zu improvisieren, überlegte mir eine Geschichte: dass sie im Museum arbeitet und er in Berlin zu Besuch ist. Und er ist anders als die Männer, die sie vor ihm kennenlernte. Die hatten in Undine immer eine Fantasie gesehen, die Schönheit aus dem Wasser, die sie schnell wieder langweilt, weil sie sie gar nicht lieben, sondern nur kurz begehren. Und ich erwähnte die Erzählung von Ingeborg Bachmann, in der es Undine ist, die auf die Welt blickt, und nicht die Männer, die sie begehren. Ich habe das alles schnell aufgeschrieben, so fing das an. Ein halbes Jahr später gab es im Centre Pompidou eine Retrospektive meiner Filme und der von Harun Farocki. Zu der Zeit lebte auch Paula eine Weile in Paris, weil sie in einem französischen Film mitspielte, in dem sie tauchen musste, ausgerechnet. Bei der Eröffnung konnte sie nicht lange bleiben, und als ich sie etwas enttäuscht fragte, warum sie schon gehen müsse, sagte sie: »Ich muss zum Tauchkurs.« Da kam mir die Idee, dass der Mann, den Undine kennenlernt, ein Industrietaucher ist. Plötzlich wurden mir die Verbindungen klar, auch zu »Transit«, wo sie ertrinkt. Franz geht ins Wasser, um sie zu suchen, und sie geht an Land, um ihn zu finden.
Also ist »Undine« nicht nur eine Fortsetzung der Zusammenarbeit, sondern eine Weiterentwicklung der Geschichte? Eine Art Sequel zu »Transit«?
Das ist ganz sicher ein bisschen so.
Was hat Sie am Perspektivwechsel interessiert, also daran, die Geschichte aus Undines Sicht zu erzählen?
Das hat mich bei Hitchcocks Filmen schon fasziniert, die ja Frauenfilme sind. Oder bei John Ford. Aber ich konnte nicht erklären, warum ich bei meinen Filmen immer wieder die weibliche Perspektive eingenommen habe. Viele Dinge macht man und kann sie erst später formulieren. Vielleicht ganz grundsätzlich, weil ich Männerbünde schon immer abgelehnt habe und glaube, dass Frauen es besser hinkriegen als wir. Als ich in Basel zu einer Retrospektive war, sah ich im Filmmuseum ein Faltblatt für eine Filmreihe mit Werken von Claude Chabrol. Darin war ein Interview mit ihm, in dem er gefragt wurde, warum er fast ausschließlich Frauenfilme gedreht hat. Seine Antwort: »Männer leben, Frauen überleben.« Und das ist es! Die Figuren in meinen Filmen, die etwa Nina Hoss gespielt hat, sind alle Überlebende und Exilantinnen, deren Anstrengung und Arbeit viel härter ist, um wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Männer haben Songs von Frank Sinatra und unzählige Kinomythen; sie können sich ihre Einsamkeit im Grunde malen. Die Einsamkeit der Frauen ist eine, die am Abgrund ist. Wenn sie alleinerziehend waren oder ehelos Kinder hatten, wurden sie lange Zeit furchtbar behandelt. Und auch heute ist die Gewalt, die von Rechten ausgeht, eine Männergewalt. Das ist auch ein Backlash auf Frauen wie Undine oder wie Nina Hoss sie gespielt hat. Frauen, die gesagt haben: Wir machen das hier nicht mehr mit.
Aber hat Hitchcock wirklich »Frauenfilme« gemacht?
Das ist ja das Interessante. Ich habe Weihnachten zu Hause verbracht, nachdem »Undine« abgedreht war und wir im Feinschnitt waren. Im Fernsehen lief »Vertigo«, und obwohl ich ihn auf DVD und Blu-ray habe und vielleicht hundertsechsundzwanzigmal gesehen habe, blieb ich hängen. Beim Fernsehen weiß man, man schaut jetzt nicht allein, sondern mit Tausenden anderen, die ebenfalls gerade vor ihren Geräten sitzen. Und plötzlich fiel mir etwas auf, das ich all die Male vorher nicht gesehen hatte. James Stewart fährt die ganze Zeit dieser Frau hinterher, die ja im Grunde von einem anderen Mann erschaffen worden ist, die ein Phantom ist. Er verfolgt sie, begehrt sie, wie wahnsinnig, zieht sie aus dem Wasser. Er wird von diesem Phantasma eingewickelt, ist wie besessen, ein Verlorener. Diese Frau ist eine einzige Männerprojektion, platinblond, lindgrünes Kostüm und ein Blick, der dich nie trifft, immer an dir vorbeigeht. Ich sehe den Film und denke mir, das ist nicht meine Haltung, es ist eigentlich Kim Novak, aus deren Perspektive ich meine Filme erzähle. Sie erinnert sich an den Traum mit dem alten Gemäuer und dem Turm und der Kutsche, und er sagt: Ich weiß, wo das ist, und sie fahren zu dem Kloster außerhalb von San Francisco. Und auf dieser Fahrt montiert Hitchcock Bilder, die mir vorher nie aufgefallen sind: vorbeiziehende Baumwipfel und Schnitt auf sie, wie sie diese Wipfel anschaut. Wir sehen die Welt durch ihre Augen. Warum macht er das? Er macht es, weil sie in diesem Moment ein Mensch wird. Der Film wechselt die Perspektive, deshalb haben wir später Mitleid mit der Frau, die liebt, aber diese Liebe ist unmöglich.
In »Undine« gehen Sie weiter. Sie wechseln nicht nur die Perspektive, sondern erzählen gleich die Geschichte neu, fabulieren über den Tod des untreuen Geliebten hinaus zu einer neuen Liebe.
Ich wollte nicht einfach den alten Mythos nacherzählen, bei dem sie nach der Tötung zurück ins Wasser geht. Ich wollte, dass sie eine Liebe erfährt, die sie dem Fluch abgerungen hat und die ihr gehört. Und die Erinnerung an diese Liebe und dieser Moment der Freiheit reichen ihr am Ende. Wenn man das einmal erlebt hat, ist das nicht mehr auszumerzen. Unsere Gesellschaft versucht ja, die großen, schmerzhaften Leidenschaften zu therapieren. Und die zweite Liebe, die Christoph nach Undine mit seiner Kollegin erlebt, ist das Produkt einer solchen Liebestherapie. Er kann nicht mehr weiterleben nach dem Verlust Undines, die Liebe seines Lebens, er ist im Grunde ein Nichts. Und er kommt mit der Frau zusammen, die sowieso immer um ihn war, die ihn schon immer geliebt hat. Für ihn ist es reine Therapie, es sichert ihm das Überleben. Wenn er dann zwei Jahre später wieder an der Stelle ist, wo er mit Undine war und sie ihn an der Hand berührt, ob real oder als Einbildung, ist der Schmerz wieder da und alle Therapie umsonst. Ihre Liebe ist nicht zu zerstören. Aber ich wollte, dass Undine in dem Moment entscheidet, wie es weitergeht.
Sie spiegeln diesen Umgang mit Traumata auch in der Architektur Berlins, die eine wichtige Rolle im Film spielt, nicht nur, weil Undine als Stadtführerin arbeitet.
Viele städtebauliche Erinnerungen wurden in Berlin aus der Welt geschafft, die Mauer und der Palast der Republik etwa. Der Potsdamer Platz, wo wir gerade sitzen, sieht aus wie ein Gewerbegebiet, scheinbar geschichtslos. Als Wim Wenders hier »Der Himmel über Berlin« gedreht hat, war der Platz eine Brache, aber er erzählte von unserer Vergangenheit. Eine Stadt ist ein Behältnis, nicht nur ein blödes Museum, sondern hier müssen Geschichten ihre Orte finden. Dieses Ausmerzen von Geschichte ist auch ein Ausmerzen von Geschichten, von Erzählung und Erinnerung. Ich dachte immer, Berlin sei robust, weil die Stadt ihre Wunden zeigt, ihre Gegenwart und Vergangenheit zugleich hat. Allein diese Straße in Kreuzberg, die heute Rudi Dutschke gewidmet ist. Dort wurde 1918 die Novemberrevolution zusammengeschossen, später hat das Springer-Hochhaus gebrannt. Heute treffen zwei nach Rudi Dutschke und Axel Springer benannte Straßen aufeinander. Es ist toll, dass es solche Orte gibt.
Berlins Vergangenheit ist auch das eines Sumpfgebiets, eine weitere Verbindung zum Undine-Mythos . . .
Ich wollte nicht bloß ein Märchen erzählen, sondern reflektieren, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen. Die Geschichte Berlins lässt sich auch über die Arbeit am Wasser erzählen, wie Gebiete trockengelegt, neue Infrastrukturen geschaffen wurden. Dieses Bild eines trockengelegten Sumpfs gefiel mir, ich stellte mir vor, wie die Mythenfiguren wie Fische im Schlick liegen und um Hilfe rufen. Daraus entstanden dann auch die Texte, die Paula Beer im Film als Historikerin über die Stadtgeschichte vorträgt.
Dann aber verlässt der Film die Stadtlandschaft und führt zu einem Stausee im Bergischen Land . . .
Für mich ist der andere große Schwerpunkt eine Geschichte der Romantik. Ich bin in dieser Gegend aufgewachsen, dort gibt es Hunderte Talsperren. Die Wupper ist ein mythischer Fluss; »über die Wupper gehen«, heißt Sterben. Sie ist die Styx des Bergischen Landes. Zugleich wurde sie an allen Zuläufen gestaut, um Energie zu gewinnen. Das geht vor allem auf den alten Thyssen zurück, der ein Dieb war. Die Schweizer hatten damals den besten Stahl, der »blaue Stahl« war in ganz Europa gefragt. Und Thyssen hat diese Legierung gestohlen, brauchte aber für die Herstellung immens viel Energie, mithilfe der Wupper. So konnte er Stahl deutlich günstiger herstellen, hat den Markt überschwemmt und ist zum Großindustriellen geworden. Und aus der mythischen Wupper wurde eine Energiequelle für die Industrialisierung, aus der das Ruhrgebiet seinen Reichtum schöpfte und so zum Schmelzofen Europas wurde. Die Staumauern aber wurden, lange vor der Moderne entstanden, historisierend mit Türmchen gebaut; viele Gebäude sahen aus wie Schlösser und Burgen. Die Industrialisierung nutzte bei ihren Bauten die Romantik als Zeichen: Wir machen die Umwelt nicht kaputt. Die Romantik ist ja eine Reaktion auf die Entzauberung der Welt. Und das fand ich dort besser aufgehoben und zu erzählen als an einem Berliner See.
Diese architektonische Imitation früherer Zeiten setzt sich heute fort in Gebäuden wie dem Berliner Stadtschloss . . .
Das ist der Irrglaube, dass durch den Nachbau des Preußentums so etwas wie Heimat entsteht. Aber hinter den Fassaden befinden sich eine Shoppingmall und ein Museum, unter Missbrauch eines großen Namens auch Humboldt-Forum genannt!
Sie beziehen sich auf die deutsche Romantik, zugleich hat ihr Film etwas sehr Französisches. Vielleicht nicht von ungefähr? In Frankreich sind Ihre Filme inzwischen erfolgreicher als hierzulande. Fühlen Sie sich dort als Künstler respektierter?
Ich würde ganz knapp zusammengefasst sagen: Ja! Das liegt daran, dass wir in Deutschland ein kleines Problem mit Kino haben. Der deutsche Film muss eine Botschaft transportieren, ist ein pädagogisches Mittel. Die Schauspieler müssen uns möglichst ähnlich sein, sie dürfen nicht die Anmut einer Romy Schneider oder eines Horst Buchholz haben. Das hat für mich gar nicht so viel mit Zuschauerzahlen oder Geldverdienen zu tun. Aber wenn ich in Marseille oder Paris meinen Film zeige, sind die Gespräche auch politisch, doch der Film ist nicht bloßes Medium von Inhalten.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns