Die Roten kommen – über die aktuellen Netflix-Produktionen
»Marvel's Daredevil« (2015)
Netflix schickt sich an, wahr zu machen, was der Streamingdienst vor Jahren mit dem Einstieg in die Serienproduktion angekündigt hat: das »normale« Fernsehprogramm alt aussehen zu lassen
Es geht ein Raunen um in Europa – und herauszuhören ist ein Name, der klingt, als handle es sich um den Bewohner eines gewissen gallischen Dorfes: Netflix. Mit den Helden einer legendären französischen Comicserie hat der US-amerikanische Streamingdienst zwar nichts am Hut – außer dass gleichsam Zaubertrank mit im Spiel scheint. Wie einst unter Computernutzern die Marke Apple löst heute unter Serienguckern die Marke Netflix Verzückung aus: Das bloße Wort vermittelt die Aura von Bescheidwissen, von Kult und vagem Zukunftsversprechen. »It's not TV«, diesen Slogan reservierte einst der Kabelsender HBO für sich, um sein »cineastisches« Programm gegen das herkömmliche Fernsehen abzusetzen. Nun ist es so, als hätte sich der Slogan verselbstständigt und einen würdigeren Partner gefunden: »It's not TV – it's Netflix.« Denn Netflix ist tatsächlich das Gegenfernsehen: Netflix »sendet« nicht, sondern kann auf allen Plattformen, Handys, Tablet, Computer oder eben auch Smart-TVs, abgerufen werden. Wann und wie viele Folgen einer Serie man sehen will, das überlässt Netflix ganz dem Zuschauer. Diese neue Art des Angebots, auf Abruf, in Abo-Form – seit Herbst vergangenen Jahres auch in Deutschland buchbar – verändert den Medienkonsum.
Solange der DVD-Verleih und Video-on-Demand-Anbieter mit dem knallroten Logo nur lizenzierte Filme und Serien anbot, schenkte man ihm noch wenig Aufmerksamkeit. Seit Netflix aber vor rund vier Jahren damit begann, ins »Content«-Geschäft einzusteigen, mit anderen Worten: in die Produktion von Serien und Filmen, ist die Aufregung groß. Tatsächlich lassen sich die ersten Serien, die Netflix als sogenanntes »Original Programming« anbot, lesen wie eine Manifest dieses »Gegenfernsehens«.
Als Erstes war da die Krimikomödie »Lilyhammer«, die Netflix dem norwegischen Fernsehen abkaufte. Darin verschlägt es einen von Steven Van Zandt (»Die Sopranos«) gespielten Mafioso im Zeugenschutzprogramm nach Lillehammer. Mit dem Setting und der Hälfte der Dialoge auf Norwegisch mit englischen Untertiteln belegte Netflix sowohl den Ehrgeiz nach internationalen Reichweiten als auch eine ungewöhnliche Offenheit für Fremdes und fremde Sprachen. »House of Cards« dann, mit der Kombination von großem Budget, ausgewählten Stars und künstlerischer Freiheit, war die Kampfansage an HBO und deren Prestigeserien, nach dem Motto: Das können wir auch. Mit der Übernahme der bei Fox gecancelten Comedy-Show »Arrested Development« legte Netflix sich dann das Image des Retters von Kultserien zu. Mit »Orange Is The New Black« schließlich bewies der Streamingdienst seinen Riecher für ausgefallene Originalstoffe. Basierend auf einem autobiografischen Erfahrungsbericht, erfindet »Orange Is The New Black« das vormals immer leicht schmierige Genre der Frauengefängnisserie neu. Das großartige weibliche Ensemble vertritt hier in Sachen Charakteristik, Figur und Hautfarbe ein selten weites Spektrum, das weit über das hinausgeht, was gängigerweise für »TV-tauglich« gehalten wird.
Und dann kam zum neuen »Content« auch noch eine neue Form des »Release« hinzu: Im Unterschied zum Fernsehserienformat mit seinen wöchentlichen Sendeterminen werden die Netflix-Serien am Stück, als komplette Staffel, veröffentlicht. Zum, wie es auf Englisch heißt, »Binge-Watching«. Grob übersetzt: zum Sich-damit-Vollstopfen. Letzteres hat einige Diskussionen hervorgebracht: Ist das gesund? Schadet es dem Zuschauer, der fortan ganze Nächte und Wochenenden drangibt, um durchzukommen mit der neuen Staffel von »House of Cards«? Schadet es der Volkswirtschaft? Oder schadet diese Praxis vielleicht Netflix selbst? Und, vielleicht die wichtigste Frag: Wirkt »Binge-Watching« womöglich auf die Form der Serie zurück?
In diesem Jahr hat Netflix schon mit drei Serien Schlagzeilen gemacht: Die erste war die von Tina Fey mitproduzierte Comedy-Serie »Unbreakable Kimmy Schmidt«, die Netflix als »Retter von Kultserien« vom Sender NBC übernommen hat, der sie nach ersten Testscreenings noch vor der Ausstrahlung abgesetzt hatte. Ellie Kemper (»The Office«) spielt die Titelrolle, eine junge Frau, die jahrelang von einem Kultprediger in einem unterirdischen Bunker festgehalten wurde, im Glauben, die Welt sei untergegangen. Die Serie behandelt nun ihre Eingewöhnung in das Leben einer jungen Erwachsenen in New York. Im Kern die klassische Erzählung von der jungen Naiven, die die Großstadt für sich erobert, ist »Unbreakable Kimmy Schmidt« geprägt vom geschliffenen, oft zynischen Humor: das Markenzeichen von Tina Fey – und nicht jedermanns Geschmack.
Sehr viel breitenwirksamer, vor allem auch international gesehen, dürfte die Serie »Bloodline» sein, die in den Florida Keys gedreht wurde. Als Familienroman mit grandioser Besetzung (Sam Shepard, Sissy Spacek, Kyle Chandler, Ben Mendelsohn) belegt »Bloodline» einmal mehr die »romanhaften« Qualitäten, die im Serienformat liegen. Die Erzählung kreist um einen Mann, der lange das schwarze Schaf der Familie war und nun zurückkomt, um einen tragischen Tod in der Kindheit und um eine gemeinsam gedeckte Lüge.
Einen großen Erfolg konnte Netflix mit Marvel's »Daredevil« verbuchen, der ersten Superheldenserie aus einem Paketdeal mit Marvel, dem mindestens noch vier weitere folgen werden. Wobei das Erfolgsrezept von »Daredevil« darin zu bestehen scheint, dass hier vom üblichen Marvel-Prinzip stark abgewichen wird. Die Serie stellt eine raffinierte Mischung aus Stofftreue (zur Daredevil-Figur der Frank-Miller-Periode) und Neuerfindung dar, aus altmodischen Genreversatzstücken (dem Film noir, dem Boxerfilm) und sozialer Aktualität (es geht um Gentrifizierung, Zeitungskrise und die korrupten »one percent«). Dem Marvel-Masterplan entsprechend ist zwar auch »Daredevil« Teil des »Marvel-Universums«, aber die Anspielungen werden klein gehalten.
Abgesehen davon erfüllt »Daredevil« mit seiner Geschichte um zwei junge Rechtsanwälte, die im New Yorker Stadtteil Hell's Kitchen einem Immobilienskandal und mehr auf die Spur kommen, fast alle Vorgaben des Netflix-Manifests. Da ist zum einen die Treue zu den Fans der Comicvorlage, zum anderen ein Budget, das weniger für CGI-Effekte eingesetzt wurde als für die sorgfältige und sehr »handfeste« Inszenierung der meist mit den Fäusten ausgetragenen Kämpfe. Verglichen mit den Marvel-Superheldenfilmen fürs Kino ist »Daredevil« auch sichtlich »erwachsener«: Die Gewalt fühlt sich erschreckend real an. Und dass der Superheld selbst, ein gläubiger Katholik, mit der Frage kämpft, ob er töten darf oder soll, wird hier so ernst wie selten genommen.
Am ungewöhnlichsten an »Daredevil« aber ist die Welthaltigkeit der Serie: Da hier Russen, Chinesen und Japaner auftreten, findet wieder ein wesentlicher Teil der Dialoge in anderen Sprachen statt. Und die sind so »echt«, dass der Frage, wie gut etwa Vincent D'Onofrio, der den »Superschurken« Fisk spielt, chinesisch spricht, schon mehrere Webforen gewidmet sind.
Auf dieser Schiene – Originalität, Welthaltigkeit und Fan-Service – bewegt sich auch das, was in den nächsten Wochen noch kommt: Die Sitcom »Grace and Frankie« etwa bringt Lili Tomlin mit Jane Fonda zusammen, in »Sense 8« wollen die Wachowski-Geschwister nach all den Kinoflops zeigen, dass ihre fantastischen Geschichten im Serienformat besser aufgehoben sind. Und mit »Narcos« wagt sich Netflix noch weiter aufs internationale Arthouse-Terrain, diesmal Richtung Lateinamerika. In der Serie über den Drogenkönig Pablo Escobar und den internationalen Kokainhandel spielt der brasilianische Megastar Wagner Moura, als Autor und Regisseur ist José Padilha (»Tropa de Elite«) beteiligt.
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