Berlinale-Interview: Carlo Chatrian
Carlo Chatrian © Berlinale
Das erste Jahr der neuen Berlinale-Leitung Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek kann schon nicht einfach gewesen sein. Jetzt, da eigentlich ihre Konzeption zum Tragen kommen müsste, steckt Deutschland im Dauer-Lockdown. Wie geht ein großes Festival, das anders als Cannes und Venedig massenhaft Tickets verkauft, mit einer solchen Situation um?
epd Film: Sie haben lange Zeit auf einen klassischen Festivalbetrieb hin geplant und, als klar war, das wird nicht gehen, lange mit einer neuen Form gerungen. Was waren die schwersten Entscheidungen?
Carlo Chatrian: Nun, der schwierigste Aspekt ist immer noch, bis heute, die Unsicherheit, wie sich die Pandemie weiterentwickeln wird. Das erschwert und kompliziert jede Entscheidung. Die Stärke der Berlinale liegt darin, dass sie neue und alte Filme zusammenbringt, zugleich Publikumsfestival und Marktplatz ist. Als im November klarwurde, dass das in dieser Form auf keinen Fall stattfinden kann, hatte jede Option ihre Vor- und Nachteile. Erschwerend kam hinzu, dass niemand verlässliche Prognosen für die nächsten Wochen und Monate stellen kann, also jede Entscheidung auf unsicherem Grund gebaut ist. Das betrifft nicht nur die Berlinale – ich habe mit meinen Kollegen in Cannes und Venedig gesprochen, wir sind alle in derselben Lage. Wir machen Pläne, ohne zu wissen, ob wir sie umsetzen können oder eine nächstbeste Option entwickeln müssen.
Das heißt, Sie stehen im internationalen Austausch?
Ja, wir sprechen sehr viel häufiger miteinander als früher. Vor allem wenn es darum geht, Termine zu verschieben, müssen wir uns absprechen, da wir ja alle Teil dieses Systems sind. Eine Zeit lang gab es die Überlegung, die Berlinale auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, um Markt und Publikumsfestival nicht trennen zu müssen. Damals habe ich insbesondere mit Thierry Frémaux [dem künstlerischen Direktor von Cannes] gesprochen, der auch sehr verständnisvoll und entgegenkommend war. Doch dann war auch diese Option wieder vom Tisch. Er wiederum rief mich an, bevor er die Verschiebung seines Festivals verkündete. Dass wir uns jetzt häufiger austauschen, ist, neben den zahllosen Schwierigkeiten, eine gute Seite der Pandemie.
Wie schwer ist es, Produzent:innen für eine digitale Veranstaltung zu gewinnen?
So schwer war das gar nicht, auch weil wir ja allen Filmen des Wettbewerbs die Möglichkeit einer Kinovorführung im Juni bieten; zumindest planen wir das so. Geholfen hat uns sicher, dass wir dem Markt eine starke Plattform bieten, dass wir den wichtigen Zeitraum am Anfang des Jahres halten und dass wir für die Junivorführungen keinen Premierenstatus fordern, die Filme also für Kinostart oder Festivalauftritte nicht blockiert sind. Die Mehrheit der Produzent:innen, mit denen wir in Kontakt standen, hat sich entschieden, bei uns zu bleiben.
Es stand ja auch zur Debatte, dass einige Filme der Presse nicht zugänglich gemacht werden, was dann dazu führen könnte, dass nur die Jurymitglieder einen etwaigen Bärengewinner gesehen haben: Wie steht es damit?
Es gab einige Produzent:innen und Verleiher:innen, die zunächst Bedenken hatten, die brauchten mehr Informationen über den Schutz gegen Piraterie, und scheinbar konnten wir sie in dieser Hinsicht zufriedenstellen. Und dann gab es einige Filmfirmen, vor allem die, die mit den Studios verbunden sind, die interne Richtlinien haben, dass sie ihre Filme grundsätzlich nicht auf Plattformen zeigen. Es werden ein paar wenige Filme nicht online zur Verfügung stehen.
1600 Journalist:innen, die in einem eng begrenzten Zeitraum versuchen, Filme online zu sichten. Fürchten Sie keinen Datencrash?
Mit diesen technischen Fragen kenne ich mich persönlich nicht aus, aber mir wurde versichert, dass es da keine Probleme geben wird. Wir arbeiten mit Brightcove zusammen, einer sehr angesehenen Firma, die haben Erfahrung darin, diesen Service zuverlässig bereitzustellen. Das ist ein System, das sich auf anderen Festivals bewährt hat. Auch in Bezug auf die Sicherheit haben sie Techniken entwickelt, die Piraterie ausschließen. Journalist:innen sind es ja gewohnt, Filme über Links oder auf sicheren Plattformen zu sichten.
In diesem sehr speziellen Jahr haben Sie für das Festival mehr Geld von der Regierung bekommen. Das heißt, die Sponsorenverträge sind ausgesetzt?
Unsere langjährigen Sponsoren stehen an unserer Seite und sind sehr daran interessiert, das Publikumsevent im Sommer zu unterstützen. Die zu erwartenden Mindereinnahmen entstehen vor allem durch weniger Ticketverkäufe, da auch im Sommer mit einer niedrigeren Platzkapazität in den Kinos zu rechnen ist. Außerdem verursacht die Digitalisierung auch zusätzliche Kosten. Wir sind sehr froh, dass die BKM in Aussicht gestellt hat, uns zusätzlich zu unterstützen.
Haben Sie angesichts all dieser Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten in Betracht gezogen, das Festival in diesem Jahr ganz ausfallen zu lassen?
Natürlich war das auch eine Option. Aber bevor es so weit kommt, wollten wir alle anderen Möglichkeiten durchspielen: nicht nur weil wir unsere Filmauswahl präsentieren wollen, sondern auch weil wir wissen, wie wichtig es für die Filme ist, eine Plattform zu finden. Sicher, nicht in der gewohnten Weise, aber das ist immer noch besser als gar nichts. Die Alternative, die wir jetzt bieten, ist teurer und riskanter, dank der Unterstützung des BKM ist sie möglich. In Kultur zu investieren, auch wenn es keine wirtschaftlichen Sicherheiten gibt, darum geht es in einer Kulturinstitution.
Wie schätzen Sie die Bedeutung der Berlinale für die Filmbranche einerseits und für das kulturell interessierte Publikum andererseits ein?
Mit dem Filmmarkt und der Filmauswahl unterstützt das Festival die gesamte Filmbranche, besonders relevant ist das in diesem Jahr für den europäischen Film. Das Festival ist ein Forum für den Austausch, viele Projekte werden da zum ersten Mal präsentiert, können Aufmerksamkeit wecken und hoffentlich auch Käufer:innen überzeugen. Gerade im ersten Viertel des Jahres, wenn das System gestartet wird, ist das besonders wichtig. Aber auch kulturell haben Festivals eine besondere Bedeutung. Die Auswahl der Filme erfolgt nach kuratorischen Gesichtspunkten. Wir sind eine Gruppe von Leuten, die völlig frei auswählen können, ohne Rücksicht auf die Gesetze des Marktes nehmen zu müssen. Wenn ich einen Film auswähle, dann weil ich ihn kulturell und künstlerisch für stark halte. Gerade in diesem Jahr ist das ein starkes Argument. Wir können ein ganz anderes Bild der Welt zeigen, als es auf den gängigen Plattformen zu finden ist. Glücklicherweise sind wir in der kuratorischen Arbeit sehr unabhängig. Natürlich wollen auch wir viele Zuschauer:innen erreichen, aber es ist nicht das entscheidende Kriterium. Wir sind als Kulturevent nicht in derselben Weise von Quoten abhängig wie eine Streamingplattform, das Fernsehen oder andere gewinnorientierte Firmen. Der große Publikumszuspruch, immerhin 330 000 verkaufte Tickets im Vorjahr, bestärkt uns.
Glauben Sie, dass sich die Festivals durch die Corona-Krise für immer verändern werden: kostengünstiger und nachhaltiger, mit weniger Reisen, weniger physischem Kino, mehr digitalen Inhalten?
Schwer zu sagen, schon weil wir nicht wissen, wie lange uns die Pandemie in der Zange hält, ob es in einem Jahr vorbei ist oder ob das die neue Welt ist, in der wir uns einrichten müssen. Das Hybridformat gab es auch schon vor der Pandemie, sie hat diese Entwicklung lediglich beschleunigt. Wir schauen Filme schon längst in verschiedenen Onlinestrukturen. Doch im Kontrast dazu bieten physische Festivals kollektive Erlebnisse, die eine ganz andere Bedeutung, einen ganz anderen Wert haben. Für die Berlinale kann ich sagen, dass wir hier auf die kollektive Erfahrung setzen, die nur eine Projektion im Kino bieten kann.
Ein extrem hoher Anteil der Filme im Wettbewerb, genau ein Drittel, kommt dieses Jahr aus Deutschland, viele davon erzählen Berlin-Geschichten: Wird die Pandemie da zum Heimvorteil, oder sind die Filme so stark, dass sie auch in einem anderen Jahr wettbewerbsfähig gewesen wären?
Ganz sicher sind sie das. Trotzdem ist jede Auswahl ein Resultat der verfügbaren Filme, auch im letzten Jahr hatten wir übrigens drei wichtige Filme mit Berlin-Fokus auf der Berlinale. Dass die deutsche Präsenz in diesem Jahr stärker ist, hat sicher auch damit zu tun, dass die Filmwirtschaft hier sehr aktiv ist und mit ihren Projekten früh an uns herangetreten ist, auch weil Venedig und Sundance weniger Filme gezeigt haben und viele Festivals im Herbst ausgefallen sind. Und wenn man nach Cannes schaut – die hatten im letzten Jahr auch mehr französische Filme, das ist eine Konsequenz der Pandemie, alle bauen stärker auf den heimischen Markt. Dennoch haben wir die Filme für den Wettbewerb ausgewählt, weil sie künstlerisch stark sind.
Zum ersten Mal gibt es in diesem Jahr keinen einzigen Film aus den USA im Wettbewerb. Woran liegt das?
Sie haben sicher auch bemerkt, dass außerhalb des zentralen Wettbewerbs amerikanische Filme laufen, auch in der zweiten Wettbewerbsreihe Encounters. In diesem Jahr haben wir ganz bewusst den Internationalen Wettbewerb auf 15 Filme beschränkt, um das Programm in dem kurzen Zeitraum von fünf Tagen nicht zu überladen. Für diese Version schienen uns andere Filme besser geeignet. Gerade mit amerikanischen Filmen weckt man bestimmte Erwartungen, zu denen neben dem künstlerischen Anspruch auch die Anwesenheit von Stars gehört. Im letzten Jahr hatten wir zwei amerikanische Filme, die keine Weltpremieren waren, was in einem normalen Jahr völlig in Ordnung ist. Aber in der besonderen Form dieses Festivals, das in der ersten Hälfte ein reines Branchenevent ist, dachten wir, dass Filme, die hier als Weltpremiere laufen, stärker profitieren können. Wir hatten mehrere amerikanische Filme im Blick, gegen einige davon haben wir uns entschieden, anderen haben wir einen Platz in einer anderen Sektion angeboten, und einige haben sich für ein anderes Festival entschieden.
Im letzten Jahr haben Sie rund 800 Filme gesichtet, wie viele waren es in diesem Jahr?
Genau nachgerechnet habe ich nicht, aber es waren etwa genauso viele. Der größte Unterschied zum letzten Jahr ist, dass ich weniger reisen konnte und viele Filme hier angeschaut habe.
Wir beneiden natürlich die Jurymitglieder sehr, weil sie die Filme im Kino sehen dürfen, wie kam es zu dieser Entscheidung?
Wir haben immer gesagt, dass die Filme, die wir auswählen, für die Kinos gemacht wurden. Als Profis können wir uns auf andere Präsentationsformen einlassen, weil es unser Job ist, aber die Jury repräsentiert auf symbolische Art das Publikum, darum soll sie die Filme wie die Zuschauer im Kino sehen. Daraus ergab sich dann die Schwierigkeit, wie sich das in Berlin ermöglichen lässt. Aber ich bin zuversichtlich, dass die sechs Jurymitglieder, mit Ausnahme von Mohammad Rasoulof, von dem wir wussten, dass er nicht aus Iran ausreisen darf, alle Filme zusammen sehen und diskutieren können.
Und wie entstand die Idee, die Jury mit Bären-Gewinnern zu besetzen?
Das hat mehrere Gründe: Für eine außergewöhnliche Berlinale brauchen wir eine außergewöhnliche Jury. Dann dachten wir, es sei eine schöne Geste, wenn die Filmemacher:innen, die einen Bären gewonnen haben, ihre Kolleg:innen unterstützen. Dazu ist es ein Tribut an die jüngere Geschichte der Berlinale. Und wenn man eine Jury zusammenstellt, möchte man Menschen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund. Diese Filmemacher:innen arbeiten auf sehr unterschiedliche Weise, und glücklicherweise sind es drei Männer und drei Frauen, was auch ein wichtiger Aspekt ist.
Und auch nur möglich, weil es erstmals eine gerade Zahl von Jurymitgliedern gibt: Erschwert das nicht die Entscheidungsfindung?
Das ist die perfekte Zahl für eine demokratische Entscheidung, man kann sich nicht aufteilen, man muss einen gemeinsamen Grund finden, um die Preise zu verleihen. Das ist sicher eine Herausforderung, aber ich traue es dieser Jury zu. Wahrscheinlich ist das die demokratischste Jury, die es jemals auf einem Festival gab. Die Aufgabe besteht darin, einander zuzuhören. Menschen, die miteinander reden und zu einer gemeinsamen Entscheidung finden, das ist doch großartig, ganz besonders in diesem Jahr.
In diesem Jahr werden die Bären auch zum ersten Mal geschlechtsneutral vergeben. Statt Schauspieler und Schauspielerin werden Nebendarsteller:in und Hauptdarsteller:in ausgezeichnet. Man könnte auch sagen, dass die oft bei Preisverleihungen übergangenen Frauen in einer Kategorie, die ihnen früher sicher war, jetzt konkurrieren müssen, am Ende also weniger Chancen haben?
Ich finde, dass ein Preis für die beste Performance mehr bedeutet als ein Preis für die beste weibliche Performance. Sonst ist es ja nur der halbe Preis, es ist eine Frage der Perspektive. Die Welt, in der wir leben, ist voller Barrieren, überall gibt es Trennungslinien und Grenzen. Ich sage nicht, dass wir kulturelle Unterschiede und Identitäten vergessen sollten, denn sie machen jeden von uns besonders und vielschichtig. Männer und Frauen unterscheiden sich, aber es ist besser, diese Unterschiede zu überwinden, sie sollten keine Barrieren darstellen. Über die vordergründigen Geschlechter hinaus gibt es ja auch noch andere Unterschiede. Man kann einem sehr bekannten Schauspieler, sei er nun männlich oder weiblich, einen Preis geben. Man kann ihn aber auch einem unbekannten Schauspieler, männlich oder weiblich, verleihen und der Auszeichnung damit eine ganz andere Bedeutung geben. Darum haben wir uns entschieden, neben der besten Performance noch einen Preis für die beste Nebenrolle zu verleihen. Vielleicht ist das eine Chance, einen Schauspieler oder eine Schauspielerin zu würdigen, dessen beziehungsweise deren Leistung sonst übersehen wird. Ich glaube nicht, dass Frauen dadurch benachteiligt werden. Wir werden es am Ende sehen.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns