Andrew Haigh: Verluste sind ein Teil von uns
Andrew Haigh, Jamie Ramsay am Set von »All of us Strangers« (2023). © 20th Century Studios
»All of Us Strangers«, sein neuer Film, ist zum Weinen schön. Das kommt nicht ganz unerwartet, denn der britische Autorenfilmer Andrew Haigh hat bereits in »Weekend« und »45 Years« ein besonderes Talent für intime Geschichten gezeigt, die ihren Figuren in den Kopf und unter die Haut kriechen
»Weekend«, Andrew Haighs zweiter Spielfilm aus dem Jahr 2011, erzählt, wie eine Zufallsbegegnung und ein gemeinsam verbrachtes Wochenende das Leben zweier junger Männer verändern. In dem vier Jahre später entstandenen Drama »45 Years« droht eine Ehe zu zerbrechen, als ein Rentnerpaar von der Nachricht überrascht wird, dass die Leiche der seit Jahrzehnten verschollenen Jugendliebe des Mannes gefunden wurde. Zwei Geschichten um Beziehungen, um Abschiede und Neuanfänge, die jede für sich und auf ganz unterschiedliche Weise berührten, weil Haigh sie lebensnah und mit großer Ehrlichkeit erzählt. In seinem neuen Werk »All of Us Strangers«, in dem sich ein schwuler Mann mit seinen vor langer Zeit verstorbenen Eltern ausspricht, verschmilzt der 1973 geborene britische Regisseur nun Themen der früheren Filme zu einer Reflexion über nicht artikulierte Liebe, familiäre Bindungen und die Verletzungen, die ein Leben prägen. Und auch über spätes Versöhnen, mit anderen und mit sich selbst, das möglich wird, wenn man sich den Geistern der Vergangenheit stellt. Selten, ganz selten gibt es einen Film, der ins Mark trifft, weil er etwas anspricht, das zutiefst persönlich ist. »All of Us Strangers« ist einer dieser Filme.
Und Grund genug, mit Andrew Haigh zu sprechen. Das Interview findet per Video statt, doch sofort ist eine Nähe da, als ich erwähne, wie sehr mich, als Halbwaise aufgewachsen, Adams Geschichte berührt hat und sein Wunsch, das Schweigen in der Familie zu überwinden, auch wenn die Eltern nicht mehr leben. »Vielen Dank, das bedeutet mir sehr viel«, sagt Haigh und spricht mir sein Beileid aus. Ich beschwichtige, es sei wirklich sehr lange her. Da wird er kurz nachdenklich. »Aber diese Verluste begleiten uns, nicht wahr? Sie werden Teil von uns.«
Eine Einschätzung, die Haigh in »All of Us Strangers« fast wörtlich nimmt – inspiriert von »Sommer mit Fremden«, einem Roman des im November verstorbenen Japaners Taichi Yamada über einen Mann, der in einer Lebenskrise seinen toten, auf mysteriöse Weise zurückgekehrten Eltern wiederbegegnet. Mit dieser Geistergeschichte findet Haigh eine traumartige Metapher für die unbewussten Wunden und Traumata eines schwulen Endvierzigers, der beginnt, sich mit den Erfahrungen von Verlust und struktureller Homophobie in seinem Leben auseinanderzusetzen. Damit trifft der Regisseur, seit der Film im Oktober in Telluride Premiere hatte, weltweit einen Nerv. »Ich nehme sehr dankbar wahr, wie viele Menschen auf den Film reagieren«, sagt er, »aus ganz unterschiedlichen Gründen.«
Im Film ist aus dem Japaner Harada, der nach dem Scheitern seiner Ehe in eine Lebenskrise gerät, der Londoner Adam (Andrew Scott) geworden, der zurückgezogen in einem fast leer stehenden Hochhaus lebt, wo er ein Drehbuch über seine Familiengeschichte zu schreiben versucht. Doch das Erinnern fällt ihm schwer. Als er in seinen alten Heimatort fährt, um das Haus seiner Kindheit zu finden, begegnet er dort seinen Eltern (Jamie Bell und Claire Foy), die vor 30 Jahren bei einem Unfall tödlich mit dem Auto verunglückt sind. Nun stehen sie vor ihm und sehen keinen Tag älter aus als damals, als Adam mit zwölf Vollwaise wurde. Vorsichtig nähern sich die drei an, die Eltern fragen Adam nach seinem Leben, das sie nie kennenlernten.
Ob die Eltern eine übersinnliche Erscheinung sind oder als Fantasma einer unverarbeiteten Trauer zu verstehen, lässt der Film in der Schwebe. »Ich wollte, dass das Publikum unsicher ist, was wir da sehen. Ich wollte mit verschiedenen Elementen spielen, damit man sich immer wieder die Frage stellt, was real ist und was nicht.« Ohnehin interessiert sich Haigh vorrangig für die psychologische Lebensrealität, die emotionalen Verwerfungen, die sich aus den Erinnerungen, dem Gesagten und dem Ungesagten speisen. Wenn Adam etwa als erwachsener Mann seine zunächst irritiert reagierende Mutter über sein Schwulsein aufklärt. Oder mit seinem Vater über das Mobbing an der Schule spricht und der Vater unter Tränen um Verzeihung bittet, nicht öfter für ihn dagewesen zu sein.
»Mich beschäftigt schon länger, was es heißt, schwul zu sein und wie das im Verhältnis zur eigenen Familie steht, wie kompliziert das oft ist«, erklärt Andrew Haigh. »Aber ich hatte nie die richtige Geschichte dafür. Ich wollte kein realistisches Drama über jemanden, der seine Eltern damit konfrontiert, was sie alles falsch gemacht haben. Aber ich wusste selbst nicht genau, wie ich mich dem nähern könnte. Und dann stieß ich auf den Roman von Yamada. Die Hauptfigur im Roman ist nicht schwul, der Tonfall ist ein ganz anderer. Aber die Idee, als Erwachsener seinen toten Eltern noch einmal zu begegnen, leuchtete mir sofort ein. Wie alles miteinander verbunden ist durch Verlusterfahrungen, Enttäuschungen und Reue. All die Dinge, aus denen unser Leben besteht und die wir mit uns herumschleppen. Wir sind stark von dem geprägt, was wir in unserer Kindheit erlebt haben, dem entkommen wir nicht. Wenn man, wie meine Generation, als Schwuler in den Achtzigern aufgewachsen ist, war das allein schon eine traumatische Erfahrung. Und dieses Trauma bleibt in uns, wenn wir keinen Zugang dazu finden und uns nicht damit auseinandersetzen können.«
In Haighs Film beginnt der Protagonist Adam mit dem jüngeren Harry (Paul Mescal), dem einzigen Nachbarn im Hochhaus, den er zuvor nie wahrgenommen hatte, eine leidenschaftliche und emotional sehr intime Affäre. »Ich musste mich und meine eigenen Erfahrungen so ehrlich wie möglich einbringen, damit es funktioniert«, sagt der Regisseur. »Der Film ist nicht autobiografisch, aber vieles ist sehr persönlich, weil es Teil meines Lebens ist.« Am deutlichsten wird das in den Szenen beim Wiedersehen Adams mit seinen Eltern, die Haigh im Haus seiner eigenen Kindheit gedreht hat, in einem Vorort im Süden Londons, wo er bis zum achten Lebensjahr lebte, bevor sich seine Eltern trennten. »Ich wollte damit die Geschichte in der Wirklichkeit verankern, auch wenn sie in dieser seltsamen, surrealen Zwischenwelt spielt. Ich wollte es so konkret wie möglich machen. Und das kann ich nur, wenn ich mich selbst in die Geschichte hineinversetze.« Die Rückkehr in das Elternhaus habe auch die Stimmung beim Dreh stark geprägt. »Für mich geht es in diesem Film um Verletzlichkeit und wie wir alle Mitgefühl, Verständnis und Zuneigung in unserem Leben brauchen. Ich bin beim Dreh sehr offen mit den schmerzhaften Erinnerungen an das Aufwachsen in diesem Haus umgegangen. Schauspieler und Crew haben sehr emotional und mit eigenen Erinnerungen darauf reagiert.« Er hofft, das auf der Leinwand spürbar zu machen. »Wenn ich selbst ehrlich bin, erreiche ich damit andere und es entsteht eine besondere Verbindung. Dasselbe gilt für einen Film und das Publikum, für das ich ihn mache.«
Bis zu dieser Position und dieser Haltung war es ein langer Weg. Geboren am 7. März 1973 in Harrogate, wuchs Andrew Haigh im Vorort Croydon im Süden Londons auf. Nach einem Geschichtsstudium in Newcastle arbeitete er zunächst als Schnittassistent, erste Erfahrungen in der Filmbranche sammelte er bei Ridley Scotts »Gladiator« und »Black Hawk Down«. 2003 inszenierte Haigh seinen ersten Kurzfilm, »Oil«, über den Liebeskummer eines jungen Mannes, der versucht zu verstehen, warum sein Freund ihn verlassen hat. Es folgten drei weitere Kurzfilme, darunter »Five Miles Out«, der 2009 auf der Berlinale in der Sektion Generation lief. Parallel arbeitete er weiter als Editor an Produktionen wie Harmony Korines »Mister Lonely«. 2009 drehte Haigh mit »Greek Pete« sein Langfilmdebüt, in dem er Londoner Escorts ihre realen Erlebnisse nachspielen lässt, Besuche bei Klienten etwa, und mit fiktiven Interviews ergänzt. Der Low-Budget-Film für 10 000 britische Pfund ist eine hochinteressante Hybridform mit einem jungen Protagonisten, der sich selbst spielt und dabei versucht, eine Fassade aufrechtzuerhalten, indem er zugleich authentisch und cool wirken will.
Heute lebt Haigh mit seinem Ehemann, dem Schriftsteller Andy Morwood, und ihren beiden Töchtern in London. Doch mit seiner Identität hatte er lange gehadert, erst nach der Universität begann Haigh, offen schwul zu leben. Nach den Festivalerfolgen mit »Greek Pete« fand er das Selbstvertrauen, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen. 2011 gelang ihm mit »Weekend« der Durchbruch. Darin macht Russell (Tom Cullen) nach einem durchgefeierten Abend mit Freunden noch einen Abstecher in einen Club, wo er kurz vor Schluss Glen (Chris New) aufgabelt. Nicht seine erste Wahl, aber der Beginn einer dreitägigen, ungeplanten Romanze.
Der Independentfilm wurde schnell als eine der bis dahin authentischsten Darstellungen schwuler Beziehungen gefeiert: kein campiges Musical, kein Coming-out-Drama, sondern intime Alltagsbeobachtungen mit Typen von nebenan, die reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Eine weltweite Fangemeinde hat sich darin wiedererkannt. »Dieser Film hat mein Leben komplett verändert«, resümiert Haigh heute. »In Bezug auf meine Karriere, aber auch persönlich. Ich habe mich bis zum Alter von 26 Jahren versteckt, hatte große Angst vor dem Coming-out. Und dann mache ich zehn Jahre später einen Film über die Begegnung zweier schwuler Männer, der weltweit Aufsehen erregt. Die Tatsache, dass ich zeigen konnte, wer ich bin und was mich bewegt, hat alles in meinem Leben verändert. Und mich sprechen gerade wieder junge Leute an, die erst zehn, zwölf waren, als er rauskam, und die ihn jetzt für sich entdeckt haben.«
»Weekend« gilt als einer der besten Queerfilme der zehner Jahre. Seitdem hat sich viel getan, sagt Haigh. »Queere Geschichten sind im Mainstream angekommen. Heute gibt es auf Netflix eine Serie, die völlig selbstverständlich von zwei verliebten Schuljungs handelt. Hollywoodstudios produzieren schwule Romantikkomödien. Die Welt hat sich weiterentwickelt und ist inklusiver geworden.« Das sei aber nur eine Seite. »Noch immer ist es schwierig, einen queeren Film zu machen, der anspruchsvoller und weniger stromlinienförmig ist, der nicht nur gefallen will, sondern vielleicht etwas fordert, auch herausfordert. Filme, wie sie Gregg Araki in den Neunzigern machte, oder »Mein wunderbarer Waschsalon« von Stephen Frears. Diese Art von Filmen hat es heute vielleicht noch schwerer als damals.«
An dieser Entwicklung hatte Haigh auch selbst Anteil mit der HBO-Serie »Looking«, die von 2014 bis 2016 zwei Staffeln und einen Spielfilm lang erfrischend lebensnah den Alltag einer schwulen Freundesclique in San Francisco in all seinen Spielarten auffächerte. Haigh war Autor und ausführender Produzent und inszenierte einen Großteil der Episoden ebenso wie den Film, der die trotz guter Kritiken und überschaubarer, aber treuer Fangemeinde früh abgesetzte Serie zu einem halbwegs würdigen Abschluss brachte.
Das Drama »45 Years« war dann 2015 Haighs erster Film auf einem A-Festival, er lief im Wettbewerb der Berlinale und machte den damals 42-Jährigen einem breiteren Publikum bekannt. Hauptdarstellerin Charlotte Rampling als pensionierte Lehrerin, die nach 45 Jahren Ehe die Wahrheit über das lange zurückliegende Liebesverhältnis ihres Mannes mit einer anderen Frau erfährt, erhielt für ihre Leistung eine Oscarnominierung. In Berlin waren sie und Tom Courtenay als Ehemann bereits mit Silbernen Bären ausgezeichnet worden. Wie nun in »All of Us Strangers« lässt auch hier die Vergangenheit die Menschen nicht ruhen, bleibt vieles unausgesprochen, das sich wie ein Gift in die Beziehung der beiden schleicht.
Mit seinen nächsten Projekten konnte Haigh nicht ganz überzeugend anschließen. Das Jugenddrama »Lean on Pete« über den sensiblen 15-jährigen Charlie, der sich im Nordwesten der Vereinigten Staaten bei einem Sommerjob mit einem schwächelnden Rennpferd anfreundet, lief 2017 in Venedig im Wettbewerb, wo der junge Hauptdarsteller Charlie Plummer den Nachwuchspreis erhielt. Auch wenn der Film auf den ersten Blick aus der Reihe fällt, bleibt Haigh seinem Interesse für Figuren treu, die sich allein gelassen fühlen und nach einem Ausweg suchen. In die deutschen Kinos hat es die sensibel inszenierte Coming-of-Age-Geschichte nicht geschafft. Die von Haigh verantwortete Miniserie »Nordwasser«, Adaption eines düsteren Historienromans über die brutale Männerwelt an Bord eines Walfangschiffes, das im Jahr 1859 Richtung Arktis unterwegs ist, lief vor gut zwei Jahren trotz Colin Farrell als Oberfiesling ziemlich unbeachtet auf Magenta TV.
»All of Us Strangers« ist eine doppelte Rückkehr für Haigh, zu persönlicheren Stoffen und mehr Resonanz. Der Film ist einer der Favoriten der Awards Season, nicht zuletzt wegen der fantastischen Besetzung. Der 47-jährige Andrew Scott, bekannt aus den Serien »Sherlock« (als Moriarty) und »Fleabag«, wo er den sexy Priester spielt, erwies sich für die Rolle des Adam als Glücksgriff. »Andrew ist nur wenig jünger als ich. Er weiß genau, was es bedeutet, in einer bestimmten Zeit schwul aufzuwachsen, und wie man versucht, damit umzugehen. Als wir uns zusammensetzten, dauerte es keine zwei Minuten und wir waren auf einer Wellenlänge, sprachen über unsere Erfahrungen und wie wir uns damals gefühlt haben. Und auch wie wir heute leben und noch immer diesen Knoten im Bauch spüren. Die Gefühle von damals verschwinden nie ganz, sie leben in uns weiter. Andrew ist in der Lage, seine Verletzlichkeit zuzulassen und auch zu zeigen.«
Die Besetzung der anderen Rollen nennt Haigh eine »Bauchsache«. »Die Beziehungen mussten organisch und emotional glaubhaft sein. Denn der Film verlangt vom Publikum, sich in etwas hineinzuversetzen, das nicht real ist. Damit es auf emotionaler Ebene authentisch ist, war es wichtig, Schauspieler zu finden, die zusammenpassen. Bei Jamie Bell und Claire Foy hatte ich schon vorab das Gefühl, sie würden als Eltern gut harmonieren. Wie sie über Andrew Scott sprachen, bestätigte das. Bei Paul Mescal war es ganz ähnlich. Alle wussten, worum es bei dem Film ging, dass sie sich persönlich einbringen mussten, um es glaubhaft zu machen.«
Diese Offenheit und Verletzlichkeit in einem geschützten Rahmen am Set zuzulassen, ist das eine. Doch nun überlässt er den Film der Öffentlichkeit und Reaktionen, die nicht in seiner Kontrolle sind. »Das ist für mich auch das Schwierigste an dem ganzen Prozess. Ich habe immer wieder das Gefühl, keinen Platz zu finden, und große Angst, etwas auszudrücken und dann gesagt zu bekommen, dass die Welt nicht daran interessiert ist.« Er hält inne und schaut mich an. »Sie verstehen, was ich meine, oder? Gerade bei diesem Projekt, weil es so persönlich ist und weil wir alle eine Menge von uns selbst hineingesteckt haben. Wenn das abgelehnt wird, fällt es schwer, es nicht als Ablehnung der eigenen Person zu verstehen.«
Am Ende des Gesprächs kommt er auf seine Selbstzweifel zurück. »Ich habe intensiv darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn alle den Film hassen würden. Ich hatte Angst, dass es mich davon abhalten könnte, jemals wieder zu inszenieren. Und vielleicht wäre es gar nicht der Fall gewesen. Vielleicht hätte ich es überstanden und es wäre in Ordnung gewesen.« Und dann atmet er hörbar aus. »Aber offensichtlich spricht »All of Us Strangers« viele und ganz unterschiedliche Menschen an. Und das fühlt sich sehr, sehr gut an.«
Kommentare
Andrew Haigh / All of US strangers
Moin. Moin!
Ich bin wirklich froh, so eine tolle Zeitschrift wie die Ihre gefunden zu haben!
Jahrelang habe ich mich durch die FAZ- und SZ-Kritiken geclickt, die auch nicht schlecht waren, aber Ihre Zeitschrift bringt nochmal eine ganz andere Tiefe mit sich, wie zb der Artikel über Andrew Haigh.
Vielen, vielen Dank!!!
Bernd Vasmer
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