Hörkino 3
Vor ein paar Jahrzehnten, als Meryl Streep bereits als die beste Schauspielerin ihrer Generation galt, wurde besonders gern eine Facette ihres Talents hervorgehoben: die Glaubwürdigkeit, die sie fremdländischen Akzenten verleihen kann. Die Rolle der polnischen Holocaust-Überlebenden in »Sophies Entscheidung« oder die einer Australierin in »Ein Schrei in der Dunkelheit« sind nur zwei von vielen Beispielen, an denen sich diese außerordentlich Begabung festmachen lässt.
Als Streben nach Authentizität scheint dies einerseits dem für ihre Generation gültigen Goldstandard amerikanischer Schauspielkunst zu entsprechen, dem method acting. Aber dabei sollen Figuren ja vor allem aus dem affektiven Gedächtnis des Darstellers heraus entwickelt werden. Streeps Spezialität hingegen scheint einer anderen Sphäre anzugehören, die stärker von Beobachtung und Technik geprägt ist. Diese Verwandlungskunst gehört, wenn Sie mir diese Vereinfachung gestatten, eher dem britischen Stil an. Insofern ist es also folgerichtig, dass die Schauspielerin große Beachtung in zwei Rollen fand und findet, in denen sie zwei berühmten Engländerinnen eine Stimme (und natürlich ihre Gestalt) leiht, Maggie Thatcher und der Suffragette Emmeline Pankhurst.
Wie prächtig das Gegenteil bei diesem anglo-amerikanischen Transfer funktionieren kann, ist momentan auf BBC4 zu bewundern. Der Sender strahlte im Oktober im Rahmen der Reihe "Unmade movies" drei Hörspieladaptionen unverfilmter Drehbücher aus. Das ist eine famose Idee, auch wenn der zweifellos griffige Titel der Serie mich zunächst an »unmade beds« denken ließ. Den Anfang machte »The Hook«, das der Dramatiker Arthur Miller, für Elia Kazan schrieb und das als Vorläufer sowohl von Millers Drama »Ein Blick von der Brücke« wie Kazans »Die Faust im Nacken« gilt (wogegen indes sprechen könnte, dass Budd Schulberg offenbar parallel und unabhängig von Miller für sein Drehbuch an der New Yorker Waterfront recherchierte). Auch das zweite Hörspiel beginnt im Hafen von New York: Es ist die Bearbeitung von Orson Welles' amerikanisierter Adaption von Joseph Conrads »Heart of Darkness«. Den Abschluss der season bildete »The Blind Man« nach einem Drehbuch, an dem Alfred Hitchcock und Ernest Lehman nach ihrem Triumph mit »Der unsichtbare Dritte« arbeiteten, dann aber feststellten, dass sie das Problem des Dritten Aktes nicht in den Griff bekamen. Das hat nun Mark Gatiss versucht, einer der Köpfe hinter dem formidablen »Sherlock« mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman. »The Hook« ist noch für eine Woche auf der Internetseite des Senders abrufbar, »Heart« für zwei und »Blind Man« für drei.
Alle drei sind auf je eigene Weise ein Ohrenschmaus, ihnen ist jedoch die Trittsicherheit gemeinsam, mit der sich die britischen Darsteller amerikanische Charaktere anverwandeln. James McAvoy ist ein sehr überzeugender, moderner US-Marlow; mitunter setzt er kleine Kunstpausen, die Welles Sprachverliebtheit Rechnung tragen. Und Hugh Laurie kann in seiner Rolle als blinder Jazzpianist in der Hitchcock-Geschichte überdies noch auf sein Talent als Jazzinterpret zurückgreifen. Aufsehen erregend ist auch das gesamte Ensemble von »The Hook«, das sich mächtig ins Zeug legt, wie Werftarbeiter aus Brooklyn zu klingen. Ein exquisites Vergnügen hält freilich auch die Erzählerstimme von David Suchet bereit, der Millers Regieanweisungen liest und dabei von einem zunächst nüchternen Tonfall zu einem immer dramatischeren Duktus wechselt, bis er am Ende zu einem höchst wirkungsvollen Flüstern findet. Die Musik erinnert durchaus an Leonard Bernsteins Partitur zu »Die Faust im Nacken« und bei »The Blind Man« darf man gleichermaßen an die Scores denken, die Bernard Herrmann und Miklos Rosza für Hitchcock schrieb. Ein zusätzliches Vergnügen ist es, Peter Serafinowicz zuzuhören, der die Stimme des Regisseurs imitiert (»Good afternoon, ladies and gentlemen…«) und die Regieanweisungen spricht.
Die Vorstellung, dass gescheiterte Filmprojekte auf diese Weise ein Nachleben haben, gefällt mir. Natürlich werden sie im neuen Medium nur mit Abstrichen heimisch. »The Hook« und »Heart of Darkness« wurden übrigens zuvor schon in England auf die Bühne gebracht; letzterer mit Brian Cox in der Doppelrolle Marlow und Kurtz, was Orson Welles' ursprünglichem Konzept entsprach. Welles' Adaption des Conrad-Romans (den er bereits für die Radiosendung seines "Mercury Theatre" bearbeitet hatte) sollte eigentlich sein Kinodebüt werden. Es war einerseits zu innovativ – er stellte sich vor, den ganzen Film in subjektiven Einstellungen aus Marlows Sicht zu erzählen – und stellte sich zudem als zu kostspielig für das Studio RKO heraus. Welles wollte 3000 schwarze Komparsen haben, in Hollywood waren aber gerade einmal 500 registriert. »Citizen Kane« war dann ja auch keine schlechte zweite Wahl. Die filmische Subjektivierung des Blicks findet ihr akustisches Äquivalent in Mc Avoys Erzählung, die das Hörspiel dominiert. Bemerkenswert ist die Zeitaktualität des Originals, in dem Welles auf den Faschismus in Europa anspielt. "I'm the first really successful dictator," lässt er Kurtz einmal sagen. Die politische Brisanz könnte ein weiterer Grund sein, weshalb das Studio vor dem Stoff zurückschreckte; bis zum Kriegseintritt der USA bemühte sich Hollywood, wie wir heute wissen (siehe meinen Eintrag Unverhoffte Begeisterung vom 1.7.), um eine lukrativere Beschwichtigungspolitik.
Auch Millers Gewerkschaftsdrama »The Hook« scheiterte wohl zu einem Gutteil an politischen Widerständen. Der Dramatiker war wegen seiner ehemaligen Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei in der Hochzeit der McCarthy-Ära erpressbar. Er zog sich zurück, als Columbia das Buch vom FBI und der Gewerkschaft autorisieren lassen wollte, wodurch sich Kazan verraten fühlte. »Die Faust im Nacken« ist gewiss die packendere und auch lyrischere Version dieses Themas. Obwohl es schon schade ist, dass Kinogänger nie den tollen Dialogsatz "When God made the waterfront, he must have had it in for somebody." (zu deutsch etwa: "Als Gott die Waterfront schuf, muss er es schwer auf jemanden abgesehen haben.") zu hören bekamen.
»The Blind Man« ist eine leichtfüßigere Angelegenheit. Lehmans Originalidee ist bestechend, zugleich lässt sich aber nachvollziehen, weshalb sie am Ende nicht ganz aufging. Bei einer Operation werden einem blinden Jazzmusiker die Augen eines Verstorbenen transplantiert. Dieser wurde ermordet, und die Netzhaut hat das Bild des Täters konserviert, der sodann auftritt und den unfreiwilligen Augenzeugen ausschalten will. Fürs Radio scheint dieser Stoff denkbar ungeeignet, was ein wenig dadurch kompensiert wird, dass die Regieanweisungen und Dialoge voller Wortspiele stecken, die ums Sehen kreisen. Großartig ist beispielsweise der Moment, als der Musiker ein Telegramm bekommt, aber nicht lesen kann. Das Spiel mit falschen Identitäten und die schwerelose Gravitas der Dialoge tragen eindeutig die Handschrift des Autors von »Der unsichtbare Dritte«; man spürt aber auch, wo Gatiss Nachbesserungen vorgenommen hat. Lehman wollte, dass der Held als Erstes Disneyland besucht, was Walt jedoch verweigerte, nachdem er »Psycho« gesehen hatte. Im Radio kann er den Vergnügungspark nun unbeanstandet in Augenschein nehmen. Die Handlung spielt weitgehend auf einem Kreuzfahrtschiff. Erstaunlich spät kommt das Hitchcock-Motiv des unschuldig Verfolgten ins Spiel. Der Regisseur hätte gern eine Verfolgungsjagd in der historischen Altstadt von Carcassonne inszeniert, hier führt die Reise aber nach Hawaii. Gatiss hat sich die Hitchcock-Frage "Was gibt es dort?" gestellt und als Antwort das Finale stracks auf einen ausbrechenden Vulkan verlegt. Abgesehen von dieser haarsträubenden Passage hat mich das Hörspiel ziemlich überzeugt. Den Film würde ich natürlich lieber sehen. Andererseits: Nie habe ich mir beim Hören vorgestellt, wie Cary Grant (noch ein Engländer, der überzeugend als Amerikaner durchging!) wohl in der Hauptrolle gewesen wäre. Nein, Laurie macht sie sich wirklich zueigen.
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