Kritik zu Tao Jie – Ein einfaches Leben
Ann Hui, die Grande Dame des Hongkong-Kinos, erzählt in souveräner Zurückhaltung von einer Dienerin, ihrem Herrn und den Dingen des Lebens
Es sind Bilder verschiedener Nirgendwos, mit denen Tao Jie beginnt. Der Filmproduzent Roger ist auf Reisen, wartet an einem Bahnhof auf den Zug, eine Wüstenszenerie kommt in den Blick, dann sitzt er im Auto. Seine Stimme hebt an, von der weiblichen Hauptfigur zu erzählen: Sechzig Jahre arbeitete Ah Tao als »Dienerin«, also Haushälterin und Mädchen für alles, für Rogers Familie. Sein ganzes Leben lang war sie für ihn da, bis vor zwei Jahren...
Untermalt wird dieser Auftakt von sanfter Klaviermusik, und man könnte nun vermuten, eine episch breite, sentimentale Lebensschilderung hebe an. Doch Regisseurin Ann Hui nimmt diesen emotionalen Tonfall gleich wieder zurück. Was folgt, sind ganz alltägliche Szenen. Nur langsam, respektvoll nähert sich die Inszenierung jener Dienerin, die zunächst meist aus dem Szenenhintergrund auftaucht oder darin verschwindet, während sie für Roger, dessen Familie inzwischen im Ausland lebt, einkauft, kocht, serviert – als müsse der Film diese ältere Dame erst langsam als Hauptfigur finden und aus den Bildern herausarbeiten.
Ihr Leben lang war sie ganz selbstverständlich da, hat im Hintergrund agiert, und wie wichtig sie ihm ist, das entdeckt Roger erst, als sie eines Tages einen Schlaganfall erleidet und plötzlich nicht mehr da ist. Er besucht sie im Krankenhaus, kümmert sich um sie wie um ein Familienmitglied. Und als sie beschließt, sich in ein Altenheim zurückzuziehen, organisiert er einen Platz für sie. Doch zunächst fällt ihr die Gewöhnung an die neue Situation sehr schwer – ohne Familie, ohne Aufgabe, inmitten von lauter alten, hinfälligen Menschen, die genau wie sie nicht mehr gebraucht werden.
Von Ann Hui, selbst schon eine ältere Dame und Veteranin des Hongkong-Kinos, hat man nach Filmen wie Eine Liebe in Hongkong (1984), Die Romanze von Buch und Schwert (1987) oder Alltägliche Helden (1999) sowie zahlreichen Berlinale-Teilnahmen in den 90er Jahren hierzulande schon lange nichts mehr gesehen, obwohl sie weiterhin sehr produktiv war. Mit Tao Jie ist ihr so etwas wie ein internationales Comeback geglückt. Mehr als dreißig Auszeichnungen hat der Film inzwischen gesammelt, fünf davon allein bei den Filmfestspielen in Venedig, wo er bereits 2011 lief.
Dass er nun doch noch in die deutschen Kinos kommt, ist ein Glücksfall. Dass es so lange dauerte, passt allerdings auf ironische Weise zu ihm, kommt er doch so still, bescheiden und einfach daher wie seine Hauptfigur. Er fordert etwas Geduld, um wirken zu können. Und das einzige annähernd »Spektakuläre« an diesem Werk ist, dass es auf der wahren Geschichte seines Produzenten und Coautors Roger Lee und dessen Haushälterin beruht.
Deannie Yip und Andy Lau (Infernal Affairs) verkörpern mit wunderbarer Natürlichkeit diese beiden Menschen, die so unterschiedlich sind und doch irgendwann wie Mutter und Sohn wirken. So einfach und klar wie ihre Darstellungen sind auch die Bilder der episodenhaft entfalteten Erzählung. Selbst dramatische Wendungen werden eher beiläufig ins Bild gesetzt oder aber ganz ausgespart. Ah Taos Schlaganfall, ihre inneren Kämpfe mit dem Leben im Altersheim, die zeitweilige Verbesserung ihres Gesundheitszustands bis hin zu einem späten persönlichen Aufblühen, dann aber eine erneute, drastische Verschlechterung – all das wird mit philosophischer Gelassenheit angesichts der Unabänderlichkeiten des Lebens erzählt, und immer wieder mit leisem Humor konterkariert. Nie zielt die Gestaltung auf dezidiert schöne Bilder oder Gefühlswallungen des Zuschauers, auch wenn hin und wieder in der Musik eine Sentimentalität anklingt, die der Film ansonsten verneint. Seine Wirkung baut sich langsam und untergründig auf, durch Zwischentöne, über die Kraft seiner Charaktere und die genaue Beobachtung ihrer Beziehungen.
Etwa in einer Szene, deren Parallelmontage beinahe schon als ästhetische Kühnheit heraussticht: Da sehen wir Ah Tao, die mit anderen Heimbewohnern bei einem Brettspiel sitzt, während Roger zu Hause ehemalige Klassenkameraden empfängt. Aus dem Gefrierfach holen die Männer eine Ochsenzunge, die noch Ah Tao eingefroren hat. Begeistert von dieser Köstlichkeit, wie sie nur die begnadete Ah Tao zubereiten konnte, tauschen sie Erinnerungen an die Dienerin aus, die sie alle noch von früher kennen. Spontan rufen sie sie im Heim an, was sie zutiefst bewegt. Ein Stück Fleisch als allzu vergängliches, ja in diesem Moment schon verspeistes Relikt von Ah Taos Wirken führt da zu einem Moment der Verbundenheit und Freude – das ist auf so schlagende Weise alltäglich wie essenziell, dass die Sequenz eine nachhaltige Wucht entfaltet. Bisweilen hat man in diesem Film den Eindruck, einen tiefen Blick in die Arbeit des Lebens zu werfen.
Das heißt aber nicht, dass alles Friede, Freude, Ochsenzunge wäre. Ah Taos sture Selbstlosigkeit, ihre Weigerung, von anderen Menschen oder vom Leben etwas zu verlangen oder einmal nicht die Gute zu sein, erscheinen durchaus in kritischem Licht. Auch Roger wird nicht nur als Wohltäter gezeigt. Neben seiner Tendenz zur Bindungsunfähigkeit und seinem Schweifen zwischen den Nirgendwos des Business werden noch zwiespältigere Seiten seines Charakters angedeutet: etwa, wenn er anscheinend keine Skrupel hat, ein paar finstere Typen zu engagieren, um einen Mieter einzuschüchtern – schließlich soll die Wohnung frei werden, damit Ah Tao dort einziehen kann. Gewissermaßen im Vorübergehen erzählt der Film darüber hinaus vom sozialen Kontext im heutigen Hongkong, von Klassenunterschieden, von der Situation alter Menschen in Heimen, die statt Zimmern lediglich durch Stellwände getrennte kleine Kabinen aufweisen, von Einwanderern, die ganz offiziell je nach Herkunft sehr unterschiedlich bezahlt werden und von wachsender Einsamkeit in einer dynamischen Gesellschaft.
Vielleicht wäre einiges in Tao Jie straffer zu erzählen, ließe die Narration sich stellenweise konzentrieren. Doch dass es ihm fern liegt, durch dramaturgische Verdichtung auf direkten emotionalen Umsatz zu zielen, gerade das macht eine Qualität des Films aus, wie sie nicht nur im Kino Hongkongs selten ist. Er ist so frei von Eitelkeit und betrachtet seine Figuren und ihre Welt mit so offenem Blick, dass man das fast schon wieder als Extravaganz bezeichnen könnte.
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