Kritik zu Das ganze Leben liegt vor dir
Als »besondere Arbeit für besondere Menschen« – so beschreiben die Zeitarbeiter in Paolo Virzìs Komödie täglich im Chor ihren eigenen Job. Und die arbeitslose Akademikerin Marta möchte für einen Moment gerne daran glauben
Dank ihrer neuen Methode ist Marta im Callcenter die Überfliegerin. Während sie mit arglosen Hausfrauen telefoniert, um ihnen überflüssige Wasserfilter aufzuschwatzen, sondiert sie via Google-Maps die Wohngegend ihrer Gesprächsteilnehmer. Mit fingierten Ortskenntnissen stellt sie eine geheuchelte Vertraulichkeit her, die das Verkaufsgespräch beflügelt. So wird die arbeitslose Akademikerin, die gerade ihre Dissertation über Hannah Arendts Beziehung zu Heidegger »cum laude« verteidigt hat, zur Verkaufskönigin des Monats. Sie staunt selbst, wie gut sie sich dabei fühlt. Sogar dem Hauptgesprächsthema ihrer weniger gebildeten Kolleginnen, der aktuellen »Big Brother«-Staffel, kann sie auf einmal etwas abgewinnen.
Die Schwierigkeit, als studierte Philosophin einen Job zu finden, die Arbeitsriten einer »prekären« Beschäftigung im Callcenter, Trash-TV und der Begriff der »Sorge« bei Heidegger, diesen kühnen Themencocktail mixt der italienische Regisseur Paolo Virzì in seiner Kapitalismuskomödie. Die satirisch überspitzte Darstellung der Telefonmarketingfirma bildet das Herzstück des Films, der durch sensible Figuren- und Milieuzeichnung geerdet ist. Das abgelegene Callcenter erscheint als bizarre Parallelwelt, die ihre Mitarbeiter nach dubiosen Motivationsmethoden drillt, gegeneinander ausspielt und dabei wie im »Big Brother«-Container überwacht. Das klingt nach dogmatischer Systemkritik, doch Paolo Virzì propagiert in seinem sympathischen kleinen Film keine Patentlösung: Als ein vernagelter Gewerkschaftler, mit dem Marta zarte Bande knüpft, die Methoden des Callcenters anprangert, wird das Leben der Frauen an den Strippen nur noch schwerer.
Paolo Virzì überrascht immer wieder durch pointierte Detailbeobachtungen: Um Guthaben auf der Prepaidkarte zu sparen, kommuniziert Martas Mitbewohnerin Sonia mit ihrer kleinen Tochter dadurch, dass sie auf deren Handy kurz den Vibrationsalarm auslöst. Solche hellsichtigen Kurzschlüsse machen die Qualität dieses lebhaften Films aus. Grandios ist schon der Vorspann: In einem Tagtraum erlebt Marta durch den Blick aus dem fahrenden Bus, wie alle Menschen um sie herum wie in einem Musical fröhlich im Gleichschritt tanzend ihre Arbeit verrichten.
Leider gleitet die konzentrierte Schilderung hier und da doch etwas in Klamauk ab. Versöhnlich stimmt jedoch die augenzwinkernde Grundidee einer filmischen Adaption des sechsten Kapitels aus »Sein und Zeit«. Heidegger führt hier aus, dass der Bezug des Ichs zur Außenwelt philosophisch nicht beweisbar ist. Allein das Grundphänomen der »Sorge« zeigt indirekt, dass das Subjekt immer schon in der Welt verankert ist. In diesem Sinn erlebt Marta das Callcenter wie jenen von der Außenwelt isolierten Container aus »Big Brother«. Die Realität wird für sie erst dann wieder authentisch durch die Sorge einer einsamen Oma, die zwar keine Wasserfilter kaufen kann, aber gerne mit Marta spricht. Das ist originell und verständlich, auch ohne Heidegger-Vorkenntnisse.
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