Kritik zu Kein Ort

© GMfilms

2009
Original-Titel: 
Kein Ort – Nowhere in europe
Filmstart in Deutschland: 
15.04.2010
L: 
98 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Wenn es ein Film schafft, ein Thema neu zu beleben, dann hat er viel erreicht: Kerstin Nickigs Dokumentation zeigt das Schicksal von Einwanderern aus Tschetschenien, die nach Europa kommen

Bewertung: 4
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Nach der jüngsten Gesetzgebung müssen asylsuchende Flüchtlinge in Europa im ersten Einreiseland bleiben. Das ist oftmals Polen, das selbst mit diesen Flüchtlingsströmen heillos überfordert ist. »Kein Ort« – das sind wir, ein krisensicheres Europa, das sich immer deutlicher gegen Einwanderer abschottet, eine Grenze aus Gesetzen errichtet und den Einzelnen immer öfter seinem nicht kalkulierbaren Schicksal überlässt. »Kein Ort« – so die wörtliche Übersetzung – ist die Utopie, das ferne europäische Ziel des Glücks. Europa ist aber eben auch ein Ort der Ernüchterung, der Ablehnung und in letzter Konsequenz der Abschiebung. In der Doppeldeutigkeit des Titels stecken Hoffnung und Hoffnungslosigkeit gleichermaßen.

Der Tschetschenienkrieg ist fast schon vergessen, dabei ist er noch nicht einmal wirklich vorbei. Die Krise hat sich vielmehr ausgedehnt. Bis heute werden Menschen in der nordkaukasischen Region verfolgt, bedrängt und getötet. Die stärkste Gruppe der Asylsuchenden kommt heute aus diesem Teil Russlands, und es erstaunt um so mehr, wie wenig wir darüber wissen.

Kerstin Nickig, 1971 in Duisburg geboren, studierte Slawistik und Germanistik und dabei auch ein Jahr an der Filmhochschule in Lodz. Sie kennt sich in Russland aus und versteht die Sprache. In ihrem Dokumentarfilm »Lieber Muslim...« hat sie versucht zu erklären, warum Menschen in Tschetschenien lieber kämpfen, als kampflos aufzugeben. Mit diesen Kenntnissen konnte sie das Vertrauen einiger weniger Asylbewerber gewinnen. Sie fand einen direkten Zugang zu Menschen, die es gewohnt sind, den Medien zu misstrauen, die sich nur ungern öffentlich äußern und ständig mit Verfolgung rechnen müssen. Ein Mitarbeiter der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja, der Aktivist Wacha, zum Beispiel kommt hier zu Wort. Er ist ein Überlebender der Folterlager des russischen Geheimdienstes und schreibt auch im Internet regelmäßig glühende Artikel gegen die Machtpolitik in seiner tschetschenischen Heimat. Er hat in Österreich politisches Asyl erhalten und kann sich dort einigermaßen sicher fühlen. Unzähligen anderen aber droht nach wie vor die Abschiebung und damit ein unbekanntes Schicksal in Tschetschenien.

Kerstin Nickig belässt ihren Film quasi im Rohzustand. Sie glättet nichts, zeigt grobe Bilder, Unschärfen und dynamische Bewegungen der Kamera. Nichts ist abgeklärt, geregelt oder vorbei – dies ist, das sagen die Bilder immer wieder, die absolute Gegenwart. Es gibt keinen Offkommentar, lediglich Tagebuchausschnitte eines Betroffenen, keine Synchronisation, sondern Untertitel und vor allem keine Erklärung der Hintergründe. Doch kaum jemand wird diesen Film sehen, ohne wissen zu wollen, wer da jetzt in Tschetschenien regiert, was diese Menschen aus ihrer Heimat vertreibt und warum das Thema so prägnant in den Nachrichten fehlt. Die Quellen, die diese Hintergründe bereithalten, sind allen bekannt.

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