Leselust – Am bösen Rand des Mainstream
Die erste Filmkritik, für die ich je bezahlt wurde, schrieb ich, als ich Anfang der 1980er Jahre in Münster studierte. Ein Freund hatte mir Zutritt zur Redaktion der "Westfälischen Nachrichten" verschafft. Meinen Einstand gab ich mit einem Text, der zwar nur 25 Zeilen lang sein durfte, mir aber wahnsinnig Kopfzerbrechen bereitete. Da in Münster damals noch keine Pressevorführungen veranstaltet wurden, musste ich den Film am Nachmittag des Starttags sehen und gleich darauf in der Redaktion über ihn schreiben.
Fieberhaft machte ich mir Gedanken auf dem Weg vom Kino zum Verlag. 25 Zeilen schienen mir viel zu kurz, um das Machwerk zu entlarven, das ich kurz zuvor durchlitten hatte. Ich brauchte Stunden, bis ich fertig war. Die Kritik habe ich zum Glück nicht aufbewahrt. Den Film habe ich auch nie wieder gesehen, aber er ist mir seitdem ein, zwei Mal wieder begegnet. Ich war bass erstaunt, als ich zwei Jahrzehnte später in "Le monde" eine enthusiastische DVD-Kritik las. In Frankreich war er bei einem hochkarätig cinéphilen Label als Special Edition erschienen. Der Film, den ich ob seines empörend ungelenken, rüden Stilgemischs seinerzeit heillos verriss, genießt unter Kennern des Splatter-Kinos auch anderswo ein hohes Renommee. Allmählich wird es wohl Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen und mich vor denen zu blamieren: Es handelt sich um »New York Ripper« von Lucio Fulci. Ich weiß nicht, ob ich mit meiner damaligen Einschätzung falsch lag. Aber ich weiß,jedenfalls, bei welchem Autor er in den richtigen Händen ist: Dominik Graf.
In der schönen Textsammlung, die ich hier empfehlen möchte ("Schläft ein Lied in allen Dingen", erschienen im Alexander Verlag), bespricht er den »New York Ripper« zwar nicht, sondern einen anderen Reißer des Regisseurs, den er als "einen der größten Italo-Kings des Gore" feiert. Bei ihm liest sich das ganz schlüssig; der Text verrät eine intime, anspielungsreiche Kenntnis von Fulcis Oeuvre und macht Lust auf den mediterranen Schmuggler-Krimi, den Graf in seinem Text "Der König des Gemetzels" vorstellt. Ein großes Staunen ist hier und fast überall in dieser Kino-Archäologie zu spüren, was im europäischen Kino einmal an Wildwuchs möglich war. Er unternimmt Suchbewegungen am "bösen Rand des Mainstreams", er versucht schreibend eine Sehnsucht zu stillen nach einem Kommerzkino, das noch eine Art von verlorenem Geheimwissen besaß. Dessen Trivialität geniert ihn nicht – auch die Unbekümmertheit kann tief schürfen -, nie lässt er jene süffisante, anmaßende Ironie anklingen, die sich über ihren Gegenstand erhaben wähnt.
Grafs "Texte zum Film" sind zwar schon vor fünf Jahren erschienen und wurden vermutlich in epd Film bereits besprochen. Aber mir sind sie erst jetzt in die Hände geraten und zwei Meinungen sind besser als eine. Es handelt sich um Buch- und Zeitschriftenbeiträge, vor allem aber um Artikel, die er im Auftrag seines Freundes Michael Althen schrieb, als dieser Redakteur bei der "Süddeutschen" und der "FAZ" war. Graf konnte da nach Lust und Laune vorgehen; häufig sind es Besprechungen von Import-DVDs. Und manche Buchbesprechung hielten er und sein Redakteur auch mal ein, zwei Jahre später noch für aktuell. Natürlich kann man die Texte einzeln, dem eigenen Interesse folgend lesen. Aber mehr Vergnügen bereitet es, das Buch von vorn bis hinten durchzulesen. Ideal für U-Bahn- und Busfahrten. Als Strandlektüre ist es nur bedingt zu empfehlen, denn häufig regt sich die unbändige Neugier, den gerade besprochenen Film zu sehen.
Grafs Vorliebe gilt den Außenseitern, den Unordentlichen; gleichviel, ob im deutschen, englischen oder dem US-Kino. Ich teile seine Begeisterung für die amerikanische TV- Generation, für Altman, Penn und auch George Roy Hill und andere, die es ihm besonders angetan hat, denn die ist "gnadenloser umgegangen mit den Kinomythen als die Generationen davor und danach". In Italien interessiert ihn das Genrekino, in Frankreich hingegen legt er eher den Schwerpunkt auf der Nouvelle Vague und ihren Folgen. Das spannendste Kapitel gilt seinen Entdeckungen im osteuropäischen Kino, die er wesentlich dem britischen Label "Second Run" verdankt. Die hat er offenbar zur gleichen Zeit gekauft wie ich auch und es mindestens ebenso genossen, sich dort auf Neuland zu bewegen.
Der Argwohn gegenüber dem öden, offiziell gefeierten Kino (den "Kanon-Filmen") zieht sich zwar als Leitmotiv durch das Buch. Aber die Opposition, die er zwischen Genre- und Autorenfilm aufmacht, ist nicht dogmatisch. Hübsch finde ich, wie janusköpfig er Andrzej Wajda begreift, sich für die offiziellen wie die weniger kanonisierten Filme interessiert. Zum 80. Geburtstag betrachtet er dessen Gesamtwerk durch das Prisma der »Mädchen von Wilko«; die Melancholie, die dieser Film bei mir hinterließ, stellte sich beim Lesen von Grafs Hommage unmittelbar wieder ein. Großartig seine Definition von Miklós Jancsós Kino; überhaupt sind seine Erkundungen der verschütteten Nachkriegstradition des ungarischen Kinos schön. Die großen Franzosen Resnais, Truffaut und Sautet gewinnen bei ihm nicht zuletzt Kontur durch ihren Einsatz der Musik. Kaum jemand schreibt so gut über Filmmusik wie Graf (obwohl der Text zu Philippe Sarde und Sautet leider viel zu knapp geraten ist). Auch mit Jean Eustache (den er schlüssig mit Patrick Modiano in Verbindung bringt – lange vor der in Mode kam) und dem poetischen Wissenschaftler Chris. Marker kann er eine Menge anfangen. Nur einmal mäkelt er an einem Film herum – ausgerechnet »Mathilde – Eine große Liebe« von Jean-Pierre Jeunet, für den ich eine ziemliche Schwäche habe -, was ein einsamer Misston im Buch ist.
Tendenziell bringt Graf eher seine "Karriere als Kinogänger" ins Spiel als die Perspektive des Filmemachers. Natürlich aber sind seine Urteile erfahrungsgesättigt. Er schreibt aus dem eigenen Selbstverständnis des Handwerkers heraus, stellt etwa dar, wie viel savoir faire es kostet, ganze Szenen in einer Einstellung zu drehen oder extrapoliert vom Stil auf das Drehtempo bei Robert Aldrich. Grundlegendes ist fast wie nebenbei über das Kino zu erfahren. Es wird mir im Gedächtnis bleiben, wie er bei Wajda festhält, dass sich historische Erkenntnisse weniger der Dramatik der Geschehnisse verdanken als einer präzisen Topographie: "Mit der Beschreibung von Wegen, wie sie von den Menschen in der Vergangenheit zurückgelegt wurden, mit der Erzählung von versunkenen Orten...". Selten beginnt er einen Text mit einer Szenenbeschreibung, wenn, dann ist sie wunderbar wie ein Schlüsselmoment in Damiano Damianis "Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert" oder der Aufritt der Ulanen in Wajdas »Lotna« ("Kann man so heute nicht mehr drehen. Tierschützer würden eingreifen und die ganze Filmcrew verhaften lassen.")
Er taucht in die Welt der Filme ein. Er schreibt mit jener Begeisterung, die aus der Hüfte schießt. Keine Ahnung, wie viel Zeit und Arbeit in den Texten steckt. Für seinen Panoramablick aufs ungarische Nachkriegskino hat er bestimmt eine Menge Wissen auffrischen müssen. Der Autor Graf spreizt sich nicht, sein Stil ist denkbar unangestrengt. Ich glaube, am meisten gefällt mir die Art, wie er bei der Nacherzählung von Filmhandlungen in die Vergangenheitsform wechselt. Vielleicht mag er deshalb die Zeitsprünge bei Resnais und Nicolas Roeg so sehr.
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