Cannes 2015 – Eine Palme für den besten Popsong!
Isabelle Huppert, Gérard Depardieu in »Valley of Love«
Von Stöckelschuhen und den »Dad bods« bis zum Thema Sex, Netflix und dem »Digital single market«
Sex im Kino ist out | Oder doch nicht?
Noch 2013 gewann mit »Blau ist eine warme Farbe« ein Film die Goldene Palme, der gleich mehrere in ihrer Länge rekordverdächtige Sexszenen zeigte. Zahlreiche Kommentare und ganze Essays zum Thema »Sex im Kino« waren die Folge. Nimmt er zu, nimmt er ab, wird er expliziter, frauenfreundlicher oder doch nur anders? Die Zeiten wandeln sich: Cannes 2015 jedenfalls war rekordverdächtig, was die Abwesenheit von Sexszenen anbelangte. Entweder sie waren ausgesprochen züchtig (Carol), oder es wurde nach alter Schule kurz davor diskret weggeschnitten (Dheepan) oder, und das war erstaunlich oft, an Sex wurde gar nicht gedacht (Sea of Trees, Our Little Sister, Mountains May Depart). Aber Gaspard »Skandal ist mein zweiter Vorname« Noé sprang in die Bresche: Sein neuer Film Love wurde mit pornografie-verdächtigen Plakaten beworben, er selbst versprach Sex zu zeigen, wie er wirklich sei. Entsprechend groß war der Auflauf bei der mitternächtlichen Premiere, ganz Cannes schien bereit, sich skandalisieren zu lassen, zumal in 3D! Doch dann, wie das heute so ist noch während des Films, sickerten die ersten Tweets ein, die feststellten, dass Sex allein heutzutage eben doch niemand mehr aufregt und außerdem nicht spielfilmfüllend sei . . .
Buhrufe | In Zukunft verboten?
»Booed in Cannes«, das war schon mal der Titel einer Retrospektive in New York, die zeigte, was für eine ehrenhafte Liga von Filmen das ist: Scorseses Taxi Driver, Lynchs Wild at Heart, Dreyers Gertrud, Antonionis L’eclisse und natürlich der immer in diesem Zusammenhang zitierte »Sous le soleil de Satan« von Maurice Pialat samt dessen saftiger Entgegnung. Pialat erhielt die Goldene Palme und als er es unter Pfiffen und Buhrufen auf die Bühne geschafft hatte, musste ihm eine souveräne Catherine Deneuve erst mal zum Wort verhelfen, bevor er dem unzufriedenen Publikum entgegenpfeffern konnte: »Sie mögen mich vielleicht nicht, aber ich kann Ihnen sagen, ich mag Sie auch nicht!« Innerlich mag es Matthew McConaughey, Naomie Watts und Gus Van Sant ähnlich ergangen sein. Ihr Film »Sea of Trees« wurde bei der Pressevorführung so gründlich ausgebuht, dass man ihn schon nicht mehr als kontrovers bezeichnen konnte. Nicht die beste Vorbereitung für eine Galapremiere am nächsten Tag. Aber sie ertrugen ihr Schicksal tapfer und wie echte Profis.
Einzig die Festivalleitung war mal wieder nicht amüsiert. Überlegungen wurden in den Raum gestellt, künftig die Pressevorführungen nach den Galas stattfinden zu lassen. Ob sich das Buhproblem so lösen lässt?
Der Stöckelschuhskandal | Endlich!
Die weiblichen Festivalveteranen wussten es schon immer, aber erst in diesem Jahr erfuhr die ganze Öffentlichkeit davon: Beim Besuch der Galapremieren sind für Damen hochhackige Schuhe Pflicht. Wer flache Schuhe trägt, wird vom Personal in der Regel zum Umkleiden nach Hause geschickt. Das britische Filmmagazin »Screen« berichtete nun in seinem Festivaldaily über diese »sexistische« Praxis, weil unter anderem eine Frau, die wegen amputierter Zehen keine Absätze tragen kann, am Eingang gehindert worden war. Festivaldirektor Thierry Frémaux dementierte umgehend und schob die Schuld auf einen »einzelnen Übereifrigen«. Die Betroffenen wussten es besser. Benicio del Toro und Josh Brolin, die am folgenden Abend ihr Drogenkriegsdrama »Sicario« präsentierten, versprachen scherzhaft, zur Premiere aus Solidarität mit den Frauen hochhackige Schuhe tragen zu wollen. Daraus wurde natürlich nichts. Und trotzdem: Es war gut, dass es mal zur Sprache kam.
Dad bod| Nie wieder Bauch einziehen!
Der Begriff kam gerade zur rechten Zeit: Eine Amerikanerin hatte Ende März die Vorzüge des »Dad bod« beschrieben, der markant geprägte Ausdruck machte Furore und schon waren sie überall, die »Papa-Plauzen«, auch in Cannes. Colin Farrell etwa, der mit Bauch und Schnauzer durch Yorgos Lanthimos' Film »The Lobster« stolpert und dabei so anrührend und sympathisch wirkt wie es kaum einer der besser trainierten Helden vermag. Oder Joaquin Phoenix, der in Woody Allens neuem Werk »The Irrational Man«, einen abgehalfterten Philosophie-Professor spielt, der sich figurmäßig ganz schön gehen lässt – und trotzdem oder gerade deshalb von Frauen umschwärmt wird. In Paolo Sorrentinos »Youth« entblößen Harvey Keitel und Michael Caine ihre nicht mehr taufrischen Leiber für eine Pool-Szene, in der sie auch noch den Anblick einer perfekt gebauten, nackten jungen Frau aushalten müssen. Selten ist der lüsterne, sexistische Blick von Männern auf Frauen besser dekonstruiert worden. Und dann war da noch Gérard Depardieu in »Valley of Love« von Guillaume Nicloux: Wegen der Hitze – der Film wurde im Death Valley gedreht – trägt Depardieu seinen mächtigen Bauch die meiste Zeit nackt und ungeschützt durchs Bild. Weder seine Figur noch er selbst fühlen sich allzu wohl dabei. Aber gerade deshalb wirkt Depardieu hier so authentisch und ehrlich wie schon lange nicht mehr.
DSM | steht für »Digital single market«
Die Konsumenten wollen ihn, die Produzenten fürchten ihn, den »DSM« (Digital single market), den die Europäische Kommision unter Vorsitz ihres Präsidenten Jean-Claude Juncker als Antwort auf die Übermacht von Google und Amazon schaffen will. Günther Oettinger kam eigens nach Cannes, um die Initiative zu bewerben. Auf die berechtigten Sorgen der Filmproduzenten, die mit der Abschaffung von »Geo-Blocking« und »Territorialisiserung« ihre Finanzierungsmodelle gefährdet sehen, reagierte Oettinger mit beschwichtigenden, wenn auch nicht sehr aussagekräftigen Argumenten. Ja, man will effektiver gegen Piraterie vorgehen. Und man wünscht sich ein europäisches Netflix, das in ähnlichem länderübergreifenden Maßstab TV-Inhalte vermarkten könnte.
Netflix | Freund oder Feind?
Es spricht für sich, dass der Auftritt von Netflix-Boss Ted Sarandos in Cannes Tumulte auslöste, als ginge es um eine Masterclass mit Quentin Tarantino. Der Streamingdienst ist – siehe oben – in aller Munde, für viele verkörpert er die Antwort darauf, wie »Content« in digitalen Zeiten angeboten und konsumiert werden sollte. Für andere, und auch die waren in Cannes zahlreich vertreten, stellt Netflix schlicht das Böse dar. Ob er wisse, dass er dabei sei, das »Ökosystem des europäischen Films« zu zerstören, wollte man von ihm wissen. Die Stimmung war so aggressiv, dass Harvey Weinstein, der in der ersten Reihe saß, sich aufgerufen fühlte, Sarandos zu Hilfe zu eilen. Netflix seien Visionäre, beschwörte Weinstein das aufgeregte Publikum, in den USA würde eine Million Menschen französische Filme schauen nur wegen Netflix. Immerhin kam die Konfliktlinie recht deutlich zutage: Netflix drängt darauf, die in Europa üblichen Auswertungsfenster zugunsten von Day-and-date-releases abzuschaffen. Der Zuschauer habe das Recht zu wählen, wo und wann er Filme schaue. Im Übrigen werde es den Kinohäusern nicht schaden. Das sehen die Kinobetreiber und -Verleiher offenbar anders.
Playlist Cannes | Eine Palme für den besten Popsong-Einsatz?
Nachdem die »Palm dog«, also die inoffizielle Verleihung einer Palme an den besten Hund im Festivalprogramm, durch Institutionalisierung (»ordentliche« Jury, Facebookseite, feierliche Preisverleihung) an Originalität und Frische eingebüßt hat, wäre die Zeit für neue inoffizielle Palmen gekommen. So war der vielleicht schönste Trend in diesem Jahr die Neigung zum pointierten Einsatz eines wohlbekannten Popsongs. In Paolo Sorrentinos Youth intoniert zum Auftakt eine Hotel-Cover-Band so stimmungsvoll Candi Stantons »You Got The Love«, dass man dem Film vieles, was danach kommt, verzeiht. In Yorgos Lanthimos’ »The Lobster« singen John C. Reilly und Olivia Colman in einer Szene »Something’s Gotten Hold Of My Heart« so schräg und herzerweichend, dass man die Single kaufen würde. Corneliu Porumboiu setzt ans Ende seines Schatzsuche-Films »Comoara« die Laibach-Version des 80er-Jahre-Hits »Live Is Life« und entlässt den Zuschauer augenzwinkernd. Aber die zu erfindende Palme für den besten Popsong-Einsatz gebührte nach einhelliger Meinung in diesem Jahr dem Chinesen Jia Zhang-ke, der sein melancholisches Liebesdrama »Mountains May Depart« mit »Go West«, dem von den Pet Shop Boys gecoverten Village-People-Hit, beginnen und enden lässt. Selbst wer das Lied vorher nicht mochte, wird es danach in schön melancholischer Erinnerung behalten.
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